Nichts als die nackte Wahrheit

In Stuttgart hat Peter Konwitschny die Oper «Medea» von Luigi Cherubini entmythologisiert. Das Ergebnis ist widersprüchlich.

Marco Frei, Stuttgart
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Cornelia Ptassek (Medea) und Helene Schneiderman (Neris) in Peter Konwitschnys Stuttgarter Inszenierung. (Bild: Thomas Aurin / Staatsoper Stuttgart)

Cornelia Ptassek (Medea) und Helene Schneiderman (Neris) in Peter Konwitschnys Stuttgarter Inszenierung. (Bild: Thomas Aurin / Staatsoper Stuttgart)

Auch Regisseure können einen Spätstil entwickeln. Bei Peter Konwitschny fällt auf, dass sich seine Bühnensprache radikal entschlackt hat. Seine Arbeiten wirken heute trockener und betont diskursiv, in gewisser Hinsicht auch desillusioniert. Angesichts einer Weltordnung, die allenthalben aus den Fugen gerät, ist das verständlich. Konwitschny macht sich nichts mehr vor, misstraut den gesellschaftlichen Verhältnissen mehr denn je. «Mir scheint, dass bisher nur Verhältnisse existierten, in denen die allerschlechtesten Möglichkeiten, die wir Menschen in uns tragen, gefördert wurden», bekannte der 72-Jährige jetzt in einem Gespräch.

Mit dieser Aussage erklärt Konwitschny seinen Spätstil. Die Handlungen werden konsequent in den heutigen Alltag katapultiert, um nicht zuletzt Mythen zu entmythologisieren. Ein Personalstil ist zwar weiterhin erkennbar, aber: In manchen ironischen Brechungen grinst heute mitunter bitterböser Sarkasmus. Auch in seiner Inszenierung des Dreiakters «Medea» von Luigi Cherubini aus dem Jahr 1797, die nun an der Oper Stuttgart Premiere hatte, arbeitet Konwitschny mit diesen Mitteln. Für die Produktion wurde eigens eine deutsche Fassung erstellt, inklusive der ursprünglich vorgesehenen gesprochenen Dialoge.

Abgründiger Alltag

Die «Medea» Konwitschnys spielt – wie vor Jahren bereits seine Hamburger Inszenierung von Schönbergs «Moses und Aron» – in einer Küche, entworfen von Johannes Leiacker. Es ist ein Ort des Geschlechterkampfes, und in diesem traditionellen «Frauengefängnis» ist die unangepasste Medea ein Fremdkörper. Dabei entwickelt die Produktion vor allem dort eine starke Sogwirkung, wo Humor sekundenschnell in blanken Horror umschlägt: besonders krass in der dritten Szene des zweiten Aktes. Neris, die Dienerin von Medea, reisst wiederholt eine Tür auf, um ihre Herrin vor den König Kreon zu warnen. «Suchen Sie keinen Streit», fleht sie unaufhörlich. Noch schmunzelt man über diesen Regieeinfall, bis zusehends klar wird, was hinter der Tür mit der Dienerin geschieht.

Sie wird vergewaltigt von einem Mob, dargestellt von dem – einmal mehr grossartigen – Stuttgarter Staatsopernchor. Währenddessen bittet Medea den König um Gnade, damit sie vor ihrer Verbannung noch einmal ihre Kinder sehen kann. «Sie sehen mich auf Knien, o Herr, vor Ihnen liegen», so ihre Worte – und prompt wird sie von Kreon zum Oralverkehr gezwungen. Am Ende verlässt Kreon den Raum, und Neris wankt herein, vor Schmerzen gekrümmt. Nachdem sich die misshandelte Medea erholt hat, spukt sie angewidert in ein Spülbecken: So drastisch wird der Mythos auf die blanke Wahrheit heruntergebrochen.

Lügen des Patriarchats

Konwitschny stellt ein soziales System aus, das gegen den Menschen gerichtet ist. Deshalb arbeitet Leiacker in seinem Szenenbild zugleich mit Plastic-Müll. Wenn im letzten Akt die Wände der Küche fehlen, liegt die Bühne unter einem riesigen Meer von Abfall begraben. Eine Konsumgesellschaft wird vorgeführt, die massenhaft entmenschlichte Entfremdung geriert, um gezielt kritische Haltungen zu unterdrücken. In einem solchen sozialen Kontext ist kein Platz für eine unangepasste Frau wie Medea.

Eine weitere Assoziation wirft die Küstenlandschaft in den Raum, die gleich zu Beginn während der Ouvertüre zu sehen ist. Es ist dies eine Anspielung auf die Flüchtlingsströme unserer Tage, zumal auch Medea und ihr Ex-Mann Iason mit ihren Kindern einst heimatlos umherziehen mussten. Die Entmythologisierung von Konwitschny stösst indessen dort an ihre Grenzen, wo die «Medea»-Oper Cherubinis diesen Weg eben nicht konsequent verfolgt. Zwar zeichnet Cherubini seine Medea als eine Art «Verbrecherin aus verlorener Ehre», ohne jedoch das zentrale Motiv des Mythos grundsätzlich aufzugeben, nämlich die Tötung der eigenen Kinder durch Medea.

Ganz anders die Oper «Medea in Corinto» von Johann Simon Mayr von 1813, die vor acht Jahren in St. Gallen eine Wiederbelebung samt CD-Einspielung erfuhr: Hier spielt die Kindsmörderin kaum eine Rolle. In ihrem Roman «Medea. Stimmen» von 1996 geht Christa Wolf freilich noch wesentlich weiter. Bei Wolf werden die Kinder von einem Mob gesteinigt, womit der Mythos als Lüge einer patriarchalischen Gesellschaft entlarvt wird.

In seiner Stuttgarter «Medea» greift Konwitschny dieses Motiv indirekt auf. Am Ende werden Medea sowie Iason und Neris von der Menge niedergestochen: weil das Volk die eigene Mitschuld an dieser menschlichen Tragödie nicht ertragen kann. Ein starkes Bild ist da gelungen, allerdings bleibt die Entmythologisierung faktisch unvollständig, da Konwitschny den Kindermord der Medea noch ganz im Sinne der Mythologie geschehen lässt.

Unterkühlte Distanz

Am Ende scheitern Cherubini wie auch Konwitschny am Mythos selber, und da helfen der Regie auch keine ironischen Brechungen oder Verfremdungen. Konwitschny gelingt es nicht, diesen Widerspruch aufzulösen, und das spiegelt sich nicht zuletzt in der Personenführung der Titelpartie wider. In den Kostümen von Leiacker wirkt Medea mehr wie das Klischee einer wilden Hexe, der man ein tiefes Ringen mit sich und der Welt nicht abnimmt. Überdies wirkte Cornelia Ptassek als Medea an der Premiere insgesamt recht kühl und distanziert. Erst im weiteren Verlauf der Aufführung entwickelt sie eine stärkere Präsenz in Gesang und Darstellung.

Dagegen führen Sebastian Kohlhepp als Iason und Helene Schneiderman als Neris ihre Partien durchwegs konzis und glaubwürdig durch. Umso steifer und steriler wirkt der Vortrag der Dialoge, zumal Shigeo Ishino als Kreon mit der Diktion erhebliche Probleme hat. Wie schon bei der Stuttgarter «Fidelio»-Produktion von 2015 wird ausserdem der musikalische Fluss gestört, obwohl sich das Staatsorchester Stuttgart mit Alejo Pérez am Pult merklich um Differenzierungen bemüht.