«Where is Papa?»

Am Theater Basel dominieren Elektras schaurige Visionen die Bühne und die Regie von David Bösch. Doch der von Richard Strauss entfesselten Racheorgie fehlt etwas Entscheidendes.

Georg Rudiger, Basel
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Zerstörte Kindheit: Rachel Nicholls in der Titelrolle der «Elektra» von Richard Strauss. (Bild: Theater Basel)

Zerstörte Kindheit: Rachel Nicholls in der Titelrolle der «Elektra» von Richard Strauss. (Bild: Theater Basel)

Elektra ist noch gar nicht auf der Bühne, aber ihr Trauma dröhnt schon aus dem Orchestergraben. Der gezackte d-Moll-Akkord gleich zu Beginn von Richard Strauss' einaktiger Oper, der alsbald mit dem Ruf «Agamemnon!» textiert wird, beschwört die Erinnerung an den Vater, der einst von der Mutter Klytämnestra und ihrem Liebhaber Aegisth getötet wurde. «Es ist die Stunde, wo sie dich geschlachtet haben», singt die verstörte Tochter in ihrer Auftrittsszene. «Dein Blut rann über deine Augen, und das Bad dampfte von deinem Blut.»

Am Theater Basel dominieren Elektras schaurige Visionen auch die Bühne. Die hohen Wände sind rot getüncht. «Where is Papa?» steht mit Kreide geschrieben an der Rückwand. Die fünf Mägde rutschen auf dem Boden und versuchen vergeblich, das Blut wegzuwischen. Ein finsterer Ort. Ein Schlachthaus, aus dem es kein Entrinnen gibt. Auch das Kinderbettchen ist blutverschmiert. Das Schaukelpferd und ein paar Teddybären wirken verloren in diesem düsteren Verlies. Grablichter künden vom Tod des Vaters.

Schockmomente

David Böschs Inszenierung, die zuvor bereits an der Opera Vlaanderen und dem Aalto-Theater Essen zu sehen war, stülpt die inneren Vorgänge der Protagonisten nach aussen. Das drastische Bühnenbild von Patrick Bannwart und Maria Wolgast setzt auf Überdeutlichkeit und den ein oder anderen Schockmoment, wenn etwa beim Auftritt von Klytämnestra Tierkadaver vom Schnürboden baumeln oder zum bitteren Ende Kunstblut die Wände herunterläuft.

Raum für Zwischentöne eröffnet die drastische Szenerie dagegen nicht. Sie kann die Spannung nicht dosieren und auch keine Intimität in diesem Kammerspiel schaffen. Das ist aber nicht das einzige Problem dieser «Elektra» in der Basler Neueinstudierung (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Barbora Horáková Joly). Zum einen agiert das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Erik Nielsen zumindest anfangs zu zurückhaltend. Aus Angst, mit der riesigen Besetzung die Solisten zu erdrücken, dämpft Nielsen das Orchester zu stark. Die Schärfen der Partitur sind geglättet, die Streicher haben zu wenig Biss, das Blech tönt rund und weich, anstatt auch einmal schneidend zu werden. Farbwechsel und Schattierungen jedoch gelingen dem Orchester eindrucksvoll.

Zum anderen fehlt es der Personenführung an Stringenz und Glaubwürdigkeit. Vor allem die Zeichnung Elektras zwischen kalter Kettensägenmörderin und zerbrechlichem Kind misslingt. Rachel Nicholls' schlanker, aber durchaus tragfähiger Sopran, der in der Tiefe und der Höhe noch präsenter wird, hätte durchaus die stimmliche Disposition für solch eine Charakterisierung. Aber es fehlt der Britin an darstellerischer Präsenz und psychologischer Genauigkeit, um solch eine zwischen den Extremen changierende Elektra zu verkörpern. Der Weg vom traumatisierten Kind zur grausamen Rächerin bleibt verborgen, die psychologischen Übergänge fehlen.

Wenn sich diese eher undefinierte Elektra seelenruhig einen Sekt einschenkt, während ihre Mutter zu den panischen Sechzehnteln der Streicher von Orest ermordet wird, dann gerät die Personenregie zur Willkür. Auch die von Richard Strauss musikalisch regelrecht inszenierte Begegnung von Elektra und Orest wird szenisch verschenkt. Michael Kupfer-Radecky gibt mit warmem, fliessendem Bariton und Rauschebart einen zauseligen Frauenversteher, der verloren herumsteht oder auf seinem früheren Kinderstuhl Platz nimmt. Pauliina Linnosaaris hell timbrierte, in der Höhe wunderbar leuchtende Chrysothemis erscheint im türkisfarbenen Sommerkleid (Kostüme: Meentje Nielsen) lange Zeit als die unbeschwerte, sich ein normales Leben erträumende Schwester, ehe sie sich am Ende doch ohne jeden Skrupel am Muttermord erfreut.

Glitzerkonfetti

Ursula Hesse von den Steinen ist als Klytämnestra die Einzige, die mit ihrer enormen Präsenz und ihrem farbenreichen, dunklen Mezzo ein gleichermassen packendes wie stimmiges Rollenporträt zeichnen kann, auch wenn es die Regie mit den Blutinfusionen durch die geopferten Tiere übertreibt. Die Sängerin erschüttert mehr mit ihrem Blick als mit den Schläuchen an ihren Armen und zeigt sich in der grossen Szene «Ich habe keine guten Nächte» zu verstörenden Streicherclustern und bizarren Bläsereinwürfen als verletzliche Frau.

Je länger der Abend dauert, desto intensiver wird das Spiel des Sinfonieorchesters Basel. Nielsen gibt dem Orchester mehr Raum, um sich zu entfalten. Es wird vom sensiblen Begleiter zum selbstbewussten Akteur und erzeugt eine Sogwirkung, die dem Abend guttut. Am Ende lässt David Bösch Glitzerkonfetti regnen. Während die Schwestern ausgelassen tanzen, schlitzt sich Orest, nachdem er Aegisth (Rolf Romei) getötet hat, die Pulsadern auf. Der Fluch der Atriden setzt sich fort.