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Letzte Zähne

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Geld macht ganz offensichtlich gierig und hörig.
Geld macht ganz offensichtlich gierig und hörig. © Nils Heck

Die legendäre "Dreigroschenoper" in einer Neu-Inszenierung am Staatstheater Darmstadt.

Die Texte der Programmheft-Bekenntnisse und die Welt der Bühne – bei der Neu-Inszenierung von „Die Dreigroschenoper“ sind das am Staatstheater Darmstadt zwei Welten, die man schwerlich unter einen Hut bekommt. Antikapitalismus, die gegenwärtige, retro-kreative Politisierung im Kulturbetrieb mit Globalisierung, Migration und Finanzturbulenzen bleibt im Darmstädter Großen Haus hübsch auf dem Papier, derweil auf der Bühne die sechzehn Buchstaben des Werktitels als nahezu menschengroße Typo-Skulpturen Stellung bezogen haben.

Mit ihnen und zwischen ihnen bewegen sich die Akteure des 1928 zur Eröffnung des Theaters am Schiffbauerdamm durch Bertolt Brecht und Kurt Weill geschaffenen Werks. Eine Revitalisierung von John Gays und Johann Christoph Pepuschs „The Beggar’s Opera“, die genau 200 Jahr vorher herauskam. 

Jetzt, wiederum 90 Jahre nach der Berliner Uraufführung um den Einbrecherkönig Mackie Messer (Martin Bruchmann) und den Chef der Mitleidsagentur für Bettel-Fake, Jonathan Jeremiah Peachum (Hubert Schlemmer), war das Ganze ein im Comedy-Stil ablaufendes Geschehen um die Heuchelei, Dummheit, Eifersucht und den Dünkel dieser halbseidenen Welt mit ihren korruptiven Verästelungen in den Bereich der gesellschaftlichen Ordnungsmacht. Glücklicherweise blieben einem dabei Trump- oder Putin-Masken samt BAMF-Anspielungen erspart. 

Hurenhofstaat, Girlie-Zickereien, Bildungshuberei des Milieus wurden ohne weitere Bezüglichkeiten ausagiert. Regisseur Philip Tiedemann und Norbert Bellen (Bühne und Kostüme) beließen es bei den mittlerweile fast zeitlos wirkenden zirzensischen und rotlichtigen Revue- und Animierkluften.

Anfänglich sind alle Beteiligten in hautfarbenen Ganzkörpertrikots gleichsam kreatürlich unbeschrieben. Die Frauen mittels dieser textilen Grundierung, über die sich alle ihren Rollen gemäße Kleidung ziehen, zudem in der Lage, ein Höchstmaß an animatorischer Grätschen-Flexibilität zum Zwecke horizontaler Befangenheiten zu exerzieren. Die Buchstaben-Stelen erweisen sich als attraktive Auftrittsverstärker: das große G etwa gerät für Polly Peachum (Louisa von Spies) zu einem virtuos genutzten Schaukelpferd, auf dem und in dem ihre wie Glieder-Vektoren ausgestellten Extremitäten blendende Figur machten.

Ein outrierter Habitus ist allen Schauspielern eigen, während die Sentenz „Die im Dunkel sieht man nicht“ eigentlich nur für die sieben Musiker des Weill-Orchesters gilt, die im Hintergrund der Bühne postiert und mit Schiebermützen behütet eine weniger herb und karg klingende Dreigroschenopernmusik boten (musikalische Leitung Michael Nündel). Manchmal war der Ton glatt und voluminös, mit dem Gestus von Revue-Motorik und mit der Ohrwurm-Qualität, die viele der Songs mittlerweile als eine spezifische 20er-Jahre-Folklore erreicht haben.

Agiert wurde dem Konzept gemäß lakonisch, kess und schwungvoll. Die Textverständlichkeit war nicht immer optimal. Was den Gesang anbetrifft, hatten Louisa von Spies und Martin Bruchmann die schönsten Stimmen. Zum Schluss wird der eigentlich zu hängende Mackie Messer durch einen hoch zu Ross durch die Lüfte schwebenden Deus ex machina, begnadigt und in den Adelsstand erhoben. Und Brechts Haifisch der letzte Zahn im nach 90 Jahren höchst wackeligen Gebiss gezogen. Brecht ist tot – es lebt die Oper!

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