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Dietrich Henschel (vorne), Günter Schaupp (hinten), Chor und Extrachor der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Bernd Uhlig
Dietrich Henschel (vorne), Günter Schaupp (hinten), Chor und Extrachor der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Bernd Uhlig
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Im Gegenwind der Barbarei – Peter Ruzickas neue Oper „Benjamin“ an der Staatsoper Hamburg uraufgeführt

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Als Komponist ist Peter Ruzicka (69) nicht der Mann für’s Leichte. Wenn er seinen Opern über Celan (2001 in Dresden) und Hölderlin (2008 in Berlin uraufgeführt) jetzt in Hamburg eine dritte über Walter Benjamin folgen lässt, dann darf man mit etwas Grundsätzlichem und musikalisch Schwergewichtigem rechnen. In der Art jenes Sturms, der uns vom Paradiese wegtreibt. In eine Zukunft, der wir in Wahrheit den Rücken zukehren. Mit dem Blick auf die Trümmer, die sich in der Vergangenheit immer höher vor uns auftürmen.

Da geht es uns so wie es Walter Benjamin 1940 – oft und gern zitiert – Paul Klees „Angelus Novus“ zuschrieb, der seither als Engel der Geschichte dem Sturm dieses Fortschritts ausgesetzt ist. Wer über Walter Benjamin nachdenkt, redet, dichtet, komponiert oder inszeniert landet unweigerlich bei diesem Textschmuckstück voll dialektischer Poesie. Oder poetischer Dialektik.

Natürlich ist dieser Angelus Novus – als Reproduktion und als geistiger Unruhestifter – ein Leitmotiv in der Hamburger Uraufführungsinszenierung. Die hat die Librettistin Yona Kim in Personalunion selbst besorgt. So wie Peter Ruzicka in der ihm allein schon aus seinen Intendantenjahren (von 1988-1997) vertrauten Hamburgischen Staatsoper seine Novität selbst einstudiert und dirigiert hat.

Benjamin gilt heute als einer der wichtigen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Seit 1933 ins Exil nach Paris vertrieben, setzte er auf der Flucht vor den Nazis am 26. September 1940 an der Grenze zu Spanien seinem Leben selbst ein Ende. Die Textvorlage der Oper ist eine Collage, arbeitet mit Sprüngen, setzt auf Assoziationen. Das Personal wird dabei zum Stichwortzettel. Der jüdische Freund und Kabbala-Forscher Gershom Scholem (Tigran Martirossian), der ihn nach Jerusalem locken will. Die Lebensfreundin Hannah Ahrendt (Dorottya Láng), die um seine Sicherheit besorgt ist und zum Exil rät. Der geistige Sparrings- und Schachpartner Bertolt Brecht (Andreas Conrad), der ihn mit seiner kommunistischen Rhetorik geistig herausfordert. Schließlich die lettische Geliebte Asja Lacis (Lini Gong), die mit Koloratur und glitzernder Uniform dem Kommunismus, anders als die Ehefrau Dora Kellner (Marta Swirderska), die personifizierte Verführung ist. Bei Ruzicka behalten die Figuren lediglich ihren Vornamen und den Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens. Dietrich Henschel ist der singende Walter B..

Über 90 Minuten und verteilt auf sieben Stationen der Rückerinnerung an Schlüsselmomente seines Lebens, steht er mit ihnen mehr oder weniger intensiv im Austausch. Vor allem aber mit sich selbst bzw. seinem sprechenden Alter Ego Günter Schaupp, den das Programm etwas irreführend nur „Darsteller“ nennt.

Vor zwei Jahren gab es in Lyon schon eine Benjamin-Oper. Michel Tabachnik und sein Librettist Régis Debray nannten sie „Benjamins last night“. Sie machten daraus eine Revue der Erinnerungen, in der ebenfalls der Engel der Geschichte und noch ein paar mehr interessante Zeitgenossen Benjamins als in Hamburg auftraten. Auch dort gab es Benjamin zwei mal – ein Bett war das Zentrum und der Raum drumherum eine Asservatenkammer der Erinnerung. So konkret wird es in Hamburg nicht. Hier bleibt es Grundsätzlicher. Auch musikalisch.

Ruzickas Oper ist großformatig und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg im Graben entsprechend groß besetzt. Es wird sogar noch durch zugespieltes Schlagwerk aus einem separaten Raum verstärkt. Die Musik lässt zwar Platz für die gesprochenen Textsequenzen, ist dann aber von maßgeschneiderter Parlando-Eloquenz und weitet sich schließlich zu monumentaler Größe. In den Orchesterpassagen entwickelt sie einen unglaublichen Sog, ja eine betörende Schönheit ganz eigenen Rechts. Ruzicka ist sich seiner eigenen Mittel so sicher, dass er keine Furcht hat, in die Moderne verirrte Parsifalanklänge widerhallen zu lassen und die große post-spätromantische Geste zu zelebrieren. Damit wird in der Schönheit des Vergänglichen und einer verblüffenden Sinnlichkeit des Rhythmus zugleich eine Atmosphäre der Vorahnung evoziert, ein Angriff aufs Rationale, ein Vibrieren einer ganz elementaren Gefährdung. Zum Höhepunkt wird die fünfte Station mit einem Bezug auf seinen „Celan" und einem vom deutlich aufgerüsteten, einhundertköpfigen Chor zelebrierten, gewaltigen Jerusalem Aufschrei.

Da stöhnt schon mal das Jahrhundert aus dem Graben und von der Bühne. Und man ist verblüfft, dass man so etwas mit einem großen Orchester und Chor in einem Opernhaus noch hörbar und erfahrbar machen kann!

Heike Scheele hat einen Raum wie das Jahrhundert gebaut, zwischen dessen Fronten sich Benjamin aufrieb und an dem er letztlich zerbrach. Eine ererbte Pracht, deren Wände verwittert und deren verglaste Decke zerstört ist. Mit Bücherrealen. Hinter der Rückwand scheint gelegentlich der Chor wie auf einer Tribüne durch. Davor bewegen sich Menschen wie auf der Durchreise. Mit Koffern, die einmal auch allein auf der Bühne zurückbleiben. Mit allen metaphorischen Konsequenzen, die das hat. Manchmal bilden sie auch „nur“ ein Tableau – etwa von Figuren, die wie von Dix inspiriert (Kostüme: Falk Bauer) die Zwanziger Jahre illustrieren sollen. Die Inszenierung bebildert nicht chronologisch biographisch, sie öffnet Assoziationsräume für ein Jahrhundert als Alptraum. In Hamburg waren sich offensichtlich alle Beteiligten bewusst, was sie taten und lieferten die Spitzenqualität, die neue Werke auf ihrem Weg brauchen. 

Am Ende hüpft ein Knabe (vielleicht der junge Benjamin?) über eine Kollektion von ganz verschiedenen Kopfbedeckungen. Und man hört sich im Ersterben der Musik selbst das Hop hop hop von Wozzecks und Maries allein zurück gebliebenem Sohn hinzufügen. Ein großartiger Abend, der lange nachhallt und Lust zum Wiederhören macht.

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