Wenn er singt, zeigen die Figuren ihr wahres Gesicht: Johannes Martin Kränzle ist Spezialist für ambivalente Charaktere

Der gefragte Sänger-Darsteller hatte über Jahre wesentlichen Anteil am Erfolgskurs der Oper Frankfurt. Jetzt kehrt Kränzle, von schwerer Krankheit genesen, ans Opernhaus Zürich zurück: in der angemessen doppelbödigen Titelrolle von «Don Pasquale».

Marianne Zelger-Vogt
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Trautes Eheglück? Skepsis scheint angebracht. Johannes Martin Kränzle als Don Pasquale mit Julie Fuchs in der Rolle der Norina. Die Neuinszenierung der Donizetti-Oper durch Christof Loy hat am 8. Dezember Premiere in Zürich.

Trautes Eheglück? Skepsis scheint angebracht. Johannes Martin Kränzle als Don Pasquale mit Julie Fuchs in der Rolle der Norina. Die Neuinszenierung der Donizetti-Oper durch Christof Loy hat am 8. Dezember Premiere in Zürich.

Moniker Rittershaus / Opernhaus Zürich

An sein Debüt am Zürcher Opernhaus erinnert er sich mit gemischten Gefühlen: Es war eine Aufführungsserie von Richard Strauss’ «Ariadne auf Naxos», Johannes Martin Kränzle sang die Baritonpartie des Musiklehrers. Da spürte er irritierende körperliche Symptome, kleine, bloss Sekunden dauernde Ohnmachtsanfälle, nach denen er nicht mehr wusste, ob er überhaupt gesungen hatte. Wenig später, nachdem sich die Symptome verstärkt hatten, erhielt er die niederschmetternde Diagnose: Er leide an der Knochenmarkerkrankung MDS und benötige eine Stammzellentransplantation. Spender der lebensrettenden Stammzellen war sein in Zürich wohnhafter Bruder. Lange stand es auf Messers Schneide, ob Kränzle je wieder professionell singen, geschweige denn die gerade auf einem Höhepunkt angelangte internationale Karriere fortsetzen könne.

Vielseitig begabt

Kränzle ist ein vielseitig begabter Künstler, er studierte zuerst in seiner Geburtsstadt Augsburg Violine und in Hamburg Musiktheaterregie, begann früh zu unterrichten und zu komponieren, hätte also auch ohne Opernbühne künstlerisch wirken können. Wäre das für ihn vorstellbar gewesen? «Meine Gedanken galten damals dem Überleben, nicht den Berufsmöglichkeiten. Hauptamtlich zu unterrichten, wäre keine Option gewesen. Die Geige nahm ich während meiner Krankheit wieder hervor, um im Familienkreis Kammermusik zu spielen, zu mehr hätte es nicht gereicht. Am ehesten hätte ich das Komponieren ausbauen können. Doch so unmittelbar wie im Gesang kann ich mich in keinem anderen Medium ausdrücken. Ein volles Jahr lang habe ich nicht daran geglaubt, dass ich als Sänger wieder auf die Bühne zurückkehren würde, zu angegriffen war mein Körper von den aggressiven Behandlungen. Und ich wäre auch nicht zurückgekehrt, hätte ich nicht auf meinem früheren Niveau, sondern nur mit einem Mitleidbonus wieder auftreten können.»

Doch was er kaum zu hoffen gewagt hatte, ist geschehen: Im Herbst 2016 gab Johannes Martin Kränzle im Londoner Covent Garden sein Comeback als Don Alfonso in Mozarts «Così fan tutte». Die Rolle des Philosophen sei nicht nur stimmlich ideal gewesen für den Wiedereinstieg, die Erfahrung der Todesnähe habe ihn selber gelassener, «philosophischer» werden lassen, meint er. Diese innere Ruhe spürt man auch, wenn man mit Kränzle über seine Krankheit und seinen Beruf spricht.

Dass die Stimme wieder in ihrer früheren Fülle und Ausdruckskraft da war, bestätigte sich bei Kränzles Debüts an der Pariser Oper, in der Hamburger Elbphilharmonie und bei den Bayreuther Festspielen, wo er 2017 in den «Meistersingern von Nürnberg» den Beckmesser verkörperte. Im folgenden Jahr wurde er bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift «Opernwelt» zum zweiten Mal nach 2011 zum «Sänger des Jahres» gekürt.

Es sind ambivalente Charaktere wie Beckmesser, je nach Lesart mehr ins Komische oder ins Tragische tendierend, die den Sänger-Darsteller Kränzle besonders interessieren. Dabei bildet sein rund 120 Partien umfassendes Repertoire die menschliche Spezies in allen erdenklichen Schattierungen ab, vom leichtlebigen Eisenstein in Johann Strauss’ «Fledermaus» über den leidenden Amfortas in Wagners «Parsifal» bis zum Philosophen Nietzsche in Wolfgang Rihms «Dionysos»; nicht zu vergessen die zahlreichen Rollen aus Werken der slawischen Opernliteratur, zu denen Kränzle vor allem während seines Festengagements an der Oper Frankfurt (1998 bis 2016) gefunden hat. Diesem Haus ist er noch immer eng verbunden, und mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Lena Haselmann, hat er auch seinen festen Wohnsitz in Frankfurt.

Wunschbesetzung des Regisseurs

Wo situiert er in der langen Galerie seiner Rollenporträts die Titelfigur von Gaetano Donizettis «Don Pasquale», den Junggesellen, der in höheren Jahren noch zu heiraten beschliesst und Opfer einer grausamen Intrige seines Freundes und Arztes Malatesta wird? Kränzle hat die Oper vor Jahren kennen- und lieben gelernt, als er zu Beginn seiner Karriere diesen «Heiratsvermittler» darstellte. «Auf die Titelrolle wäre ich von mir aus nicht gekommen, man stellt sich da meist einen wohlbeleibten Bassbuffo vor, dem entspreche ich weder stimmlich noch körperlich. Als ich mir dann eine Aufnahme mit dem italienischen Bariton Sesto Bruscantini anhörte, dessen Stimme ebenfalls ein helles Timbre hatte, sah ich den Weg für mich vorgezeichnet. Vor allem aber liess ich mich vom Regisseur Christof Loy überzeugen, der mich für die Zürcher Produktion haben wollte.»

Loy lege die Rolle anders an, als man es gewohnt sei, vitaler, vielschichtiger. Natürlich habe Don Pasquale auch bei ihm bösartige Seiten, der Geiz sei bloss eine Facette seiner Pedanterie. Doch in seiner Schrulligkeit habe er auch einen gewissen Charme, so dass Norina, die als angebliche Nichte Malatestas zuerst die naive, fügsame Braut und dann die verschwendungs- und herrschsüchtige Ehefrau spielt, Mitgefühl und sogar etwas mehr für ihr Opfer zu entwickeln beginne.

«Es hat ja wirklich etwas Mitleiderregendes, wie dieser einsame Mann, der sich in vorgerücktem Alter vielleicht zum ersten Mal auf eine Beziehung mit einer Frau einlassen will, von allen – Malatesta, Norina und dem in diese verliebten Neffen Ernesto – getäuscht und hereingelegt wird. Für mich als Darsteller dieser Rolle ist das Spiel mit meinen jungen Bühnenpartnern allerdings die reine Freude.»

Mit Christof Loy hat Kränzle schon mehrmals zusammengearbeitet. Er schätzt an ihm besonders, «dass er ganz von den Menschen und den diese darstellenden Sängerpersönlichkeiten ausgeht, dass er auf visuelle Überbauten verzichtet, überhaupt die Intimität, das Leise in seinen Inszenierungen. In einem Vier-Personen-Stück wie ‹Don Pasquale› kommt seine filigrane Figurenzeichnung besonders zum Tragen.»

Kränzles nächstes grosses Rollendebüt wird ganz anderer Art sein: In der Elbphilharmonie wird er im Mai in einer halbszenischen Einstudierung die Titelfigur von Olivier Messiaens Monumentaloper «Saint François d’Assise» verkörpern. Für ihn als gläubigen Menschen sei es ein Geschenk, in diesem Jahrhundertwerk – er nennt es eine «Kathedrale» – mitwirken zu dürfen. Es werde eine Riesenreise dahin sein. Die Partitur studierend, hat er sich bereits auf den Weg gemacht. Doch auch das Zürcher Opernhaus steht nächste Spielzeit wieder in Kränzles Terminkalender. Dann wird er hoffentlich mit lauter guten Erinnerungen zurückkehren.

«Don Pasquale». Premiere am 8. Dezember, Opernhaus Zürich.