Vor uns die Sintflut: Händels «Belshazzar» an der Oper Zürich

Während wir uns im Theater amüsieren, geht draussen gerade die Welt unter, lautet eine der provokanten Thesen, die Sebastian Baumgarten in seiner neuen Regie am Opernhaus entwickelt. Leider wird nicht ebenso profiliert gesungen.

Christian Wildhagen
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Filmreifer Auftritt: Perserkönig Cyrus (Jakub Józef Orliński) reitet auf standesgemässem Tier in Babylon ein. (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Filmreifer Auftritt: Perserkönig Cyrus (Jakub Józef Orliński) reitet auf standesgemässem Tier in Babylon ein. (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Die erste Knacknuss gibt es schon nach zehn Minuten. Wir blicken auf eine Grenzbefestigung – brutaler Beton, Stacheldraht, Graffiti mit dem Wort «obey». Doch wer hat hier wem zu gehorchen? Und welche Stadt mit dicht gedrängten Wohnsilos sieht man im Hintergrund, auf der anderen, der zu beschützenden Seite, vor finsterem Abendhimmel leuchten? Die Grenze, kein Zweifel, ist die Sicherheitsmauer, die Israel seit Jahren von den Palästinensergebieten trennt. Die Stadt dahinter jedoch ist nicht Jerusalem. Ist es Gaza-Stadt? Ist es Bethlehem? Ein Messias täte ohne Frage not.

Sebastian Baumgarten dreht die Verhältnisse in seiner Neuinszenierung von Georg Friedrich Händels «Belshazzar» am Opernhaus Zürich in kühner Weise um. Das Volk Israel lebt wieder einmal in der Diaspora, diesmal delikaterweise versprengt über die arabische Welt. Das läuft gleichwohl recht friedlich ab, man lebt nebeneinander her, lässt die Juden, angeführt von ihrem visionären Propheten Daniel, sogar öffentlich die Menora entzünden und Gottesdienst feiern. Bis der Herrscher des fremden Landes, ein arger Lebemann, der berauschende Orgien feiert und seltsamen Götzen huldigt, auf die fatale Idee verfällt, die Kultgegenstände der Juden bei einem Gelage zu entweihen.

Die Strafe der obersten Instanz folgt auf dem Fusse: «Mene mene tekel upharsin» wird ihm von unsichtbarer Hand wie Stigmata auf den rechten Arm tätowiert (Schrifterscheinungen an Wänden sind heute nicht mehr en vogue). Und draussen, vor der Stadt, steht schon das Heer des smarten Persers Cyrus bereit, um die Grenzanlagen mit einem Trick zu überwinden und das Sündenbabel zu erobern. Er wird den befreiten Juden den Weg ins Gelobte Land eröffnen. Allerdings – und jetzt wird die Angelegenheit richtig kompliziert – ist das Ganze wohl nur eine Inszenierung: grosses Theater im Theater sozusagen, mit beträchtlichem Aufwand in Szene gesetzt zur Erbauung einer abgestumpften Menschheit, die vor lauter Sensationslust gar nicht bemerkt, dass unterdessen die Welt untergeht.

Für zu leicht befunden

Es gibt in Baumgartens dichtem Regiekonzept nämlich noch mindestens zwei weitere Ebenen. Die mit einigen Abweichungen, doch stringent erzählte Legende vom Babylonier Belsazar und seinem Menetekel bildet offenkundig bloss den Plot für ein etwas postmodern angehauchtes Filmepos, das im Verlauf der Aufführung abgedreht werden soll. Regisseur des zwischen Bibelverfilmung, Historienschinken und Trash irrlichternden Streifens ist niemand anderes als der besagte Daniel, der sein einschlägiges (Dreh-)Buch mit wachsender Verzweiflung durch die kulissenhafte Szenerie schleppen muss.

Gelage im Sündenbabel: Belshazzar (Mauro Peter) huldigt wundersamen Götzen. (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Gelage im Sündenbabel: Belshazzar (Mauro Peter) huldigt wundersamen Götzen. (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Selbstredend – wir sind schliesslich im Regietheater – entgleitet ihm die Regie zusehends, und während man noch am Modelltisch mit etwas dilettantischen Visual Effects die trickreiche Umleitung des Flusses Euphrat durch die Perser fingiert, kommt es am Set plötzlich zu einer echten Sintflut. Die missbrauchte Natur schlägt zurück, treibt Filmteam und Darsteller in die Flucht. Und weil das immer noch nicht reicht, um den Menschen die Nichtigkeit ihrer Probleme angesichts der Weltzerstörung vor Augen zu führen, schickt die oberste Instanz auch gleich noch einen glühenden Kometen hinterher. Gewogen und für zu leicht befunden, lautet das Urteil. Für uns alle. Krawumm!

Riesenkatze

Das ist starker Tobak – und schon ein bisschen zu viel des Klugen, Guten und Gutgemeinten. Denn die eigentliche Geschichte in Händels Oratorium, die biblische Belsazar-Erzählung aus dem fünften Buch Daniel, böte an sich bereits genügend Sprengstoff, etwa im Hinblick auf den Konflikt zwischen jüdischem Monotheismus und der Vielgötterei der Babylonier, dem als Drittes die religiöse Toleranz der Perser gegenübertritt – ein historisch übrigens fragwürdiges, für Händel und seinen Librettisten Charles Jennens aber aus dem Geist der Frühaufklärung geborenes Tertium comparationis.

Vor dieser Auseinandersetzung flüchtet sich die Inszenierung etwas zu leichtherzig in selbstironische Brechungen – wie die inzwischen doch arg abgedroschene Film-Metapher – und kunterbunte Klischees: Das Volk Israel trägt auf schwarz-grünen T-Shirts mit Zizit Grössen der jüdischen Geistesgeschichte von Marx und Freud bis Bernstein und Benjamin mit sich herum; das hedonistische Babylon (inklusive Turm) geriert sich als plüschig-brutaler Operettenstadel im Stile Ghadhafis; und die so freiheitlich gesinnten Perser entpuppen sich als uniforme Kampftruppe, die ob des siegreichen Einzugs ihres Herrschers auf dem Rücken einer – jawohl! – Riesen-Perserkatze in verordnete Verzückung verfällt.

Mit solchen Überzeichnungen schwächt die Regie ihren durchaus vorhandenen Biss, und Baumgarten bedarf des ganz groben Kometengeschützes am Schluss, um doch noch seinen religions- und gegenwartskritischen Punkt zu landen. Andererseits beschert ihm der ironische Zug seiner Inszenierung am Ende wohl die erstaunlich widerspruchsfreie Aufnahme beim Publikum. Überdies lenkt die Bilderflut von dem Umstand ab, dass an diesem Premierenabend rollendeckend, aber kaum auf der Höhe heutiger Händel-Interpretation gesungen wird.

Gezählt, gewogen

Laurence Cummings am Pult des hauseigenen Originalklang-Orchesters La Scintilla bewegt sich zwar mit fliessenden Tempi und klarer Artikulation im Fahrwasser einer modernen Händel-Sicht, hat aber wiederholt Koordinierungsprobleme mit der Bühne. Mauro Peter zeigt als Belshazzar überraschend Nerven in den schwierigen Koloraturen. Der vielversprechende Countertenor Jakub Józef Orliński als Cyrus klingt in der Höhe angestrengt und schrill. Die reizvoll timbrierte Stimme von Tuva Semmingsen ist für die Rolle des Propheten Daniel zu klein.

Bleiben auf der Habenseite die berührende Nitocris von Layla Claire und der profunde Gobrias von Evan Hughes sowie vor allem der äusserst agil und weitgehend stilsicher singende Opernchor samt Zuzügern (Einstudierung: Janko Kastelic). Für ein Haus wie Zürich, das zu Jahresbeginn bei der «Semele» mit Cecilia Bartoli noch ganz anderen Händel-Glanz zu entfalten wusste, ist das zu wenig. Mene mene tekel.