„Das verratene Meer“: Staatsoper startet mit Psychothriller

Als erste „echte“ Premiere der Saison wurde die Neuinszenierung der Oper „Das verratene Meer“ des Komponisten Hans Werner Henze an der Wiener Staatsoper erwartet. „Echt“, weil es sich um die erste Eigenproduktion des Neo-Intendanten Bogdan Roscic handelt. Der brachte einen ungewöhnlichen Psychothriller nach Wien: Es geht um enttäuschte Liebe, Generationenkonflikte und jugendliche Gewaltbereitschaft.

Bo Skovhus als Ryuji Tsukazaki und Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda sitzen in Unterwäsche auf einem Bett
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Düster inszeniert und exzellent besetzt fand die Premiere gestern mit kleinstem Saalpublikum statt – akustisch konzentrierte sich Dirigentin Simone Young auf das Publikum des Livestreams und der Radioübertragung heute in Ö1.

„Volle Pracht der Orchestrierung“

Sie habe sich dazu entschieden, die volle Pracht der Henze-Orchestrierung zur Geltung kommen zu lassen, sagte Young im Vorfeld. Die technischen Bedingungen der Internet- und Radioübertragung machten das möglich. Unter normalen Bedingungen wäre das aus Rücksicht auf die Sängerinnen und Sänger unmöglich. Der riesige Orchesterapparat eröffnet tatsächlich große Klangdimensionen: einmal mit voller Wucht, dann wieder mit kammermusikalischen Teilbesetzungen und lyrischen Arien.

Die musikalische Leiterin hat sich für die Erstaufführung in Wien nicht für die Originalpartitur entschieden, sondern sich an der überarbeiteten Fassung Henzes orientiert. 1990 wurde „Das verratene Meer“ an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. An der Staatsoper wird eine eigene Fassung in deutscher Sprache gespielt, die sich an der Fassung von 2005 orientiert, aber einige damals vorgenommene Striche rückgängig macht. Sie sei schlüssiger und musikalisch interessanter, meint Young.

Psychospiele a la Haneke

Vorlage für das Libretto von Hans-Ulrich Treichel ist der Roman „Der Seemann, der die See verriet“ des berühmten wie umstrittenen japanischen Autors Yukio Mishima. Der Inhalt erinnert an Michael Hanekes verstörende Filme: Der 13-jährige Noboru lebt mit seiner Mutter Fusako in einer Hafenstadt. Seit dem Tod des Vaters sind beide unzertrennlich, die Zuneigung zur Mutter beinahe ödipal. Noboru ist Mitglied einer gewaltbereiten Jugendbande. Ihre Gewissenlosigkeit demonstrieren sie, als sie eine Katze fangen und grausam erschlagen.

Enttäuscht von den eigenen Väter stellen sich die Knaben gegen die Elterngeneration. Als Noboru und seine Mutter den Offizier eines großen Frachtschiffes kennenlernen, verlieben sich beide in ihn. Der Seemann verführt die Mutter, sie verführt ihn zum Verrat am Meer. Er bleibt im Hafen. Noboru und seine Bande wollen diesen Verrat nicht verzeihen und entschließen sich zu einer kaltblütigen Gewalttat.

Sehenswerte Inszenierung mit exzellentem Ensemble

Der Psychothriller greift in dieser Inszenierung: Das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito, seines Zeichens neuer Chefdramaturg der Staatsoper, setzen auf Bilder, die einmal intimste Einblicke zulassen, dann wieder auf Distanz gehen und das Publikum ratlos zurücklassen ob so viel skrupelloser Gewaltbereitschaft. Den Hintergrund liefert eine graue, brutalistische Hafenszene, gestaltet von Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die ohne klischeebehaftete Japan-Referenzen auskommt und große Umbauten obsolet macht. Erst mit dem Ende und dem grausamen Mord am Seemann kommen rote Farbakzente auf die Bühne.

Das schauspielerisch und musikalisch exzellente Ensemble setzt die Vielschichtigkeit der Inszenierung gekonnt um. Vor allem Vera-Lotte Boecker als Fusako und Josh Lovell als Noboru nutzen den ihnen gegebenen Raum, um gelebte und unterdrückte Sehnsüchte zu zeigen. Alle sieben Figuren führen das Publikum in einen düsteren Abgrund, kontrastiert von Henzes oft elegischen Klängen. Für 2021 sind weitere Aufführungen dieser sehenswerten Inszenierung geplant. In der Staatsoper hofft man, die selten gespielte Oper dann endlich vor Saalpublikum aufführen zu können. Eine Übertragung aus der Wiener Staatsoper ist heute um 19.30 Uhr in Ö1 zu hören.

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