Das Repertoire zu erneuern war eines der zentralen Vorhaben mit denen Staatsoperndirektor Bogdan Roščić seine Intendanz angetreten ist – mit Calixto Bieitos Inszenierung von Georges Bizets Carmen holt er nun einen Klassiker des Regietheaters ans Haus am Ring. Dass diese Produktion bereits seit zwei Jahrzehnten auf den europäischen Bühnen von Barcelona über Paris bis nach London reüssiert, liegt nicht zuletzt am zeitlosen Zugang, den Bieito wählt.

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Carmen
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Der Regisseur verzichtet darauf, die Handlung zu verändern oder allzu viel hinein bzw. dazu zu interpretieren, sondern legt den Fokus auf den Kern der Geschichte. Hier lenken kein pseudospanischer Kitsch und kein pittoreskes Bühnenbild davon ab, wie gewalttätig und misogyn diese Welt von Fabriksarbeiterinnen, Schmugglern und Soldaten am Rande der Gesellschaft ist. Besonders stark ist dabei das Schlussbild, wenn Carmen und Don José auf leerer Bühne in einer mit Kreide angedeuteten Arena zur finalen Konfrontation aufeinandertreffen. Leider bot genau dieses Finale den einzigen wirklichen Wermutstropfen an diesem Premierenabend: nämlich das allzu zahme Spiel von Anita Rachvelishvili und Piotr Beczała. Beide lieferten zwar alles von der Regie Geforderte ab (nicht nur in der finalen Szene, aber hier fiel es besonders auf), die Darstellung wirkte aber eher einstudiert und konzentriert als organisch und lebendig. Außerdem loderte die Chemie zwischen den beiden bestenfalls auf Sparflamme, weshalb der Funke der Leidenschaftlichkeit nie richtig überspringen konnte. Gesanglich überzeugte das zentrale Paar des Abends dafür auf ganzer Linie.

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Piotr Beczała (Don José) und Anita Rachvelishvili (Carmen)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Wie eine Katze, die sich voll Spannung, aber gleichzeitig lautlos, an ihre Beute anpirscht, wirkte der dunkle Mezzosopran von Anita Rachvelishvili in der Habanera – mit voller Kontrolle strömte ihre Stimme mit eleganter Zurückhaltung durch die erste Arie, bevor sie die Intensität in den weiteren Szenen kontinuierlich nach oben schraubte. Insbesondere das mittlere und tiefe Register mit samtigen Schattierungen war ein Hochgenuss und durch ihre langjährige Erfahrung in der Partie der Carmen schaffte sie es, auch die kleinsten Nuancen und Emotionen mit vielfältigen Klangfarben zu vermitteln. Für den erkrankten Charles Castronovo sprang Tenor-Allzweckwaffe Piotr Beczała ein; sein Don José begeisterte vom ersten Ton an mit kluger Phrasierung, solider Technik und leuchtendem Strahlen. Schmeichelnd zart im Duett mit Micaëla, verzweifelt zurückgenommen in der Blumenarie und offensiv kraftvoll in den Eifersuchtsausbrüchen setzte er seine Stimme ein und gestaltete dadurch einen vielschichtigen Charakter.

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Vera-Lotte Boecker (Micaëla) und Piotr Beczała (Don José)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Als Micaëla konnte Vera-Lotte Boecker besonders im ersten Akt mit lyrischer Zartheit und Wärme in der Stimme punkten, in ihrer großen Arie im dritten Akt schien ihr dunkel timbrierter Sopran jedoch zunehmend an seine Grenzen zu kommen; während die Mittellage immer noch schön strömen konnte, wurde die Höhe enger und fallweise schrill und auch die Emotion des Moments blieb auf der Strecke. Herrlich machohaft war der Escamillo von Erwin Schrott – sein Bassbariton war all den tückischen Tönen der Partie locker gewachsen und dank seiner Bühnenpräsenz verlieh er dem Toreador auch darstellerisch den idealen Auftritt. Ein Verdienst der neuen Intendanz ist zweifellos, dass nun auch kleine Partien nicht mehr nur rollendeckend, sondern wirklich gut besetzt werden: Martin Häßler gab mit elegantem Bassbariton einen schmierig arroganten Moralès, Michael Arivony leistete stimmschön Schmugglerdienste, Peter Kellner ließ als Zuniga einmal mehr mit sonorem Bass aufhorchen und in den Rollen der Mercedes und Frasquita verströmten Szilvia Vörös und Slávka Zámečníková homogenen Wohlklang. In Topform präsentierten sich außerdem der Chor und der Kinderchor, die ihre Auftritte mit differenzierter Dynamik und bestens aufeinander abgestimmten Klangfarben absolvierten.

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Erwin Schrott (Escamillo)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Die Interpretation von Andrés Orozco-Estrada bestach schon in der Ouvertüre vor allem mit frischer Leichtigkeit und sonnigem Strahlen, das Orchester der Wiener Staatsoper folgte mit Verve dieser temperamentvollen Lesart und bot rasante Tempi. Feiner herausgearbeitet werden können hätte den ganzen Abend über jedoch der düstere, schicksalsbehaftete Aspekt der Geschichte, dem Kartentrio fehlte es beispielsweise an Dramatik, das Vorspiel zum dritten Akt erklang zwar wunderschön, aber nicht unbedingt emotional packend und auch die Hörner vor Micaëlas Arie hat man in Wien schon elegischer gehört. Hingegen schienen sich Dirigent und Orchester an diesem Abend speziell in der frivolen Ekstase wohlzufühlen, besonders beeindruckend gelang dies etwa zu Beginn des zweiten Akts.

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Szilvia Vörös (Mercédès), Anita Rachvelishvili (Carmen) und Slávka Zámečníková (Frasquita)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Temperamentvoll und spannend hätte auch das erste Aufeinandertreffen von Calixto Bieito und dem Wiener Publikum (das traditionell sehr an alteingesessenen Produktionen von Zeffirelli, Schenk und Co hängt) werden können, das nun aber entfallen musste; möglicherweise wird diese entkitschte und zeitlose Inszenierung jedoch ohnehin schon bald ein neuer Wiener Liebling sein!


Die Vorstellung wurde vom Livestream der Wiener Staatsoper rezensiert.

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