Thielemanns „Götterdämmerung“ an der Semperoper Dresden: Zwei Abschiede und Brünnhildes Debüt

Semperoper/GÖTTERDÄMMERUNG/Andreas Schager (Siegfried)/©Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Nach mehreren Jahren der Abstinenz holte Christian Thielemann in den Jahren 2016 und 2017 Richard Wagners Der Ring des Nibelungen zurück an die Semperoper Dresden, zunächst mit einzelnen Aufführungen der vier Opernwerke. Die Inszenierung aus den frühen 2000er Jahren von Willy Decker, damals eine Koproduktion mit dem Teatro Real de Madrid, mutete nach wie vor ansehnlich und zeitgemäß an, so dass es keiner neuen Regiearbeit bedurfte. Die Semperoper konzentrierte sich auf eine szenische Auffrischung, legte aber besonderen Fokus auf die musikalische, virtuose Exzellenz der Staatskapelle unter der Leitung ihres Chefdirigenten. Nach zwei vielbeachteten zyklischen Aufführungen zu Beginn des Jahres 2018 fällte Thielemann den Entschluss, am Pult der Sächsischen Staatskapelle Wagners Nibelungen-Ring fortan alle zwei Jahre auf den Spielplan zu nehmen. Bedauerlicherweise hielt der Plan nicht lange: Anfang des Jahres 2021 sind zwei seiner Ring-Zyklen der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Und mit der unerwarteten Nicht-Vertragsverlängerung von Thielemann in Dresden soll nach den beiden zyklischen Aufführungen im Januar/Februar 2023 vorerst auch wieder Schluss sein. Und so begann am 10. Februar 2023 mit Thielemanns viertem und letztem Dresdner Ring-Zyklus auch seine eigene Götterdämmerung an der Semperoper – und die wurde zurecht hochbejubelt. (Besuchte Vorstellung: 10. Februar 2023 – Zweite zyklische Aufführung 2023)

 

Der Dirigent Wilhelm Furtwängler gilt als musikalischer Mentor im Geiste Christian Thielemanns und sagte einmal „Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige“. Und gerade so ist es bezeichnend, dass ausgerechnet Thielemann mit dem Tempo bei Wagners Bühnenwerken über die Jahre kontinuierlich divergiert. In seinen Ring-Zyklen, ob an der Wiener Staatsoper, den Bayreuther Festspielen oder eben an der Semperoper, beleuchtet Thielemann stets eine andere Facette der Tetralogie und setzt selbst innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Aufführungen andere Akzente bei unerwarteten Anpassungen an Tempo und Stimmungen. So ließ Thielemann im Rheingold das Publikum zunächst im Unklaren, in welche Richtung er diesen Zyklus entwickeln möchte. Denn wo der Dirigent noch wenige Wochen zuvor an der Staatsoper Berlin in unglaublich langsamem Tempo – sein Rheingold von nie geahnten 2:45 h Dauer stellte selbst den weihevollen Zugang eines Knappertsbusch in den Schatten – sich an das Werk Wagners ehrfurchtsvoll aus der Tiefe herantastete um ganz behutsam, zugleich bestimmt und nicht schleppend, die Tiefen der Partitur auszuloten, war sein Interpretationsansatz in Dresden nun wiederum ein gänzlich anderer. Und doch lässt sich Thielmanns Berliner mit seiner Dresdner Interpretation schwerlich wertend gegenüberstellen. Denn beide Dirigate überzeugten gleichermaßen, ihren unterschiedlichen Tempovorstellungen zum Trotze, durch eine Inspiration, die sich in dem recht freien Umgang mit der Partitur offenbarte. Die Sächsische Staatskapelle klang weitestgehend filigran, schlank und durchhörbar, nur um urplötzlich in den passenden Momenten auch hochdramatisch und effektvoll aufzuspielen.

Es lag wohl an der über die Jahre eingeschwungenen Vertrautheit im Zusammenspiel der Staatskapelle Dresden mit Christian Thielemann. Kaum ein Orchester folgt derart intuitiv auf kleinste Zeichengebungen des Dirigenten, dass auch nach 16 Stunden Ring-Zyklus keine Note beiläufig oder beliebig erklang. Stets sorgten höchste Konzentration und Virtuosität für spannende Momente aus dem Orchestergraben: Die schlagartigen Wechsel im Ausdruck, ein plötzliches Rubato sowie immer wieder behutsam eingeleitete, langgezogene, nie enden-wollende Crescendi und Dynamikänderungen die direkt dem Geiste Wagners entsprangen, zeugten von Wahrhaftigkeit und Authentizität. Dieser Ring-Zyklus geriet zu einem der musikalisch aufregendsten Wagner-Ereignisse der Gegenwart! Nach jedem der vier Abende gab es für Thielemann und seine Staatskapelle nie endenden wollenden Jubel und Standing Ovations.

Semperoper/GÖTTERDÄMMERUNG/Ricarda Merbeth (Brünhilde), Waltraud Meier (Waltraute)
© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Auch die nun ihren Bühnenabschied einleitende Waltraud Meier erhielt für ihre letztmalige Darstellung der Partie der Waltraute – und ihrem damit verbundenem Abschied aus dem Wagner-Fach – Ovationen und Dankesreden. Vor ihrem über Jahrzehnte die Opernbühne prägenden Lebenswerk gilt es sich zu verneigen. Meier ließ in dem Waltraute-Monolog noch einmal „zum letzten Mal“ in ihrer unnachahmlichen, jedem Wort Bedeutung zukommenden Deklamation den Göttervater Wotan lebendig werden. Ihre Erzählung rührte zu Tränen, sie ließ in wenigen Takten –  zwischen Euphorie, Panik und Weltentsagung changierend – all die Bürden der Ringträger erlebbar werden. Ihre eindringliche Mezzo-Stimme blieb auch bei ihrem Wagnerabschied noch ergreifend.

Neben den beiden genannten Abschieden geriet das szenisch-zyklische Rollendebüt von Ricarda Merbeth als Brünnhilde zur absoluten Sensation dieses Rings. Bislang verkörperte sie die Partie lediglich in Einzelvorstellungen oder in konzertanter Aufführung. An der Semperoper bewies sie Potential zu einer der weltweit führenden Rollenvertreterinnen der Brünnhilde für die kommenden Jahre zu werden. Ihre deutliche Artikulation selbst in den hohen Lagen und ihr selbstbewusstes szenisches Agieren lassen eine akribische Auseinandersetzung mit ihrer Partie erkennen. Merbeth führte ihre mitreißend erschütternde und raumfüllende Sopranstimme über alle Register sicher und versiert. In der Tiefe glitt sie gelegentliche ins Deklamatorische, um einzelnen Worten –  beispielsweiße in der Zwiesprache zu den Gibichungen – besonderen Nachdruck zu verleihen. Ihr zur Seite stand erneut Andreas Schager in der Rolle des Siegfried, welcher bereits ausgiebig besprochen wurde.

Semperoper/GÖTTERDÄMMERUNG/Ricarda Merbeth (Brünhilde), Andreas Schager (Siegfried)/© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Großgewachsen mit omnipräsenten Stamina braucht Stephen Milling als aggressiver, brutaler und vokal alles wegfegender Hagen keinen Vergleich zu scheuen –eine Bassstimme mit Intensität wie es sie nur einmal gibt! Ebenfalls aus der Sippschaft der Gibichungen, hielten ihm Adrian Eröd als Gunther – mit markanter Baritonstimme und genauer Phrasierung – sowie Anna Gabler als klangschöne, in ihrer Darstellung sehr präsente, Gutrune stand.

Gespannt blickt man in das Jahr 2024, wenn Christian Thielemann seinen nächsten Zyklus des Ring des Nibelungen dirigieren wird: Dann zum ersten Mal in Italien, an der Mailänder Scala.

 

  • Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Semperoper / Stückeseite
  • Titelfoto: Semperoper/GÖTTERDÄMMERUNG/Ricarda Merbeth (Brünhilde), Andreas Schager (Siegfried)/© Semperoper Dresden/Ludwig Olah
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