Händel in Göttingen : Die unbewusste Poesie tanzender Kinder
Für Gäste aus Georg Friedrich Händels Wahlheimat England oder überhaupt internationales Publikum bieten die Händelfestspiele Göttingen „pre-performance talks“ auch auf Englisch an. Donald Burrows, eminenter Kenner vermutlich aller Händel-Dokumente aus britischen Zeitungen, Briefen, Notenhandschriften, skizziert jeweils kurz vor der Aufführung einen entscheidenden Schaffensabschnitt: Händels Abkehr von der italienischen Oper und seine Konzentration auf das „oratorio“ mit seinen biblischen, aber auch klassisch-antiken Inhalten.
Händels „Hercules“ legt den Finger in die psychologische Wunde des antiken Mythos über den Göttersohn, sein schreckliches Ende und seine Erhebung in den Olymp. Der Komponist und sein Textdichter beleuchten das Schicksal der leidenschaftlichen Dejanira, Hercules’ Frau. Für sie ist Hercules die Sonne; sie grämt sich über seine Abwesenheit und sehnt sich nach Vereinigung mit ihm im Elysium. In der intimen Arie „There in myrtle shades reclin’d“ liegt ihre unerfüllbare Sehnsucht nach ewiger Liebe. Doch sobald der tot geglaubte Mann heimkehrt, wird Dejanira von der „Pest“ der Eifersucht befallen. Die schöne Königstochter Iole habe Hercules den Kopf verdreht, klagt sie. Ob begründet oder nicht, ist zweitrangig; der Mythos wird erfüllt, indem Dejanira ihrem Mann ein mit vergiftetem Blut imprägniertes Gewand überreicht und ihn damit unwissentlich zugrunde richtet.
Skorpionbewehrte Furien
Die darauf folgende Gewissensqual Dejaniras ist eine der packendsten Wahnsinnsszenen der Operngeschichte: In einem dramatischen, vom Orchester begleiteten Rezitativ ruft Dejanira Furien mit skorpionbewehrten Geißeln an; die anschließende Arie „See, see, they come“ hat keine gebundene Form mehr, sondern wechselt scheinbar zusammenhanglos zwischen erregten Concitato-Teilen und dem herzzerreißenden Flehen, lento e piano, „Hide me from their hated sight“, mündend in der unerbittlichen, von Händel mit harten Orchesterschlägen unterstrichenen Erkenntnis „Alas! No rest the guilty find“ — die Schuldigen finden keine Ruhe. Vivica Genaux lieferte in der St. Johanniskirche Göttingen eine eindringliche Charakterstudie mit fokussierten Koloraturen, wenngleich die Stimme doch schon Ermüdungserscheinungen erkennen ließ. Als Iole erfreute Anna Dennis mit leuchtender Höhe, wobei manche Koloratur noch deutlicher sein dürfte. Die Altistin Lena Sutor-Wernich verlieh der Rolle des treuen Boten Lichas souverän Prägnanz, der Bassist Andreas Wolf sang einen stimmlich attraktiven, jugendlichen Herkules.
Kontrastreich ausgemalte musikalische Leidenschaften sind bei Händel Programm; zum dramatischen Schwur kommt es beim „Jealousy“-Chor über die höllische Pest der Eifersucht mit dissonanten Harmonien und einer instrumentalen Einleitung, die mit unisono sich schlängelnden Streicherfiguren und zynischen Trillern einen tyrannischen Drachen an die Wand malt. Man mag hier an Shakespeares „Othello“ denken; musikalisch nahe liegen die ausdrucksvollen Chöre der französischen Barockoper eines Lully oder Charpentier. Das Vokalensemble des NDR sang konzentriert — markant die Bässe —, animiert vom agilen Festspielorchester Göttingen und dem ebenso kraftvoll wie differenziert dirigierenden George Petrou.
Mit Ehrgeiz gepaarte Eitelkeit
Wie die Eifersucht, so ist auch die mit Ehrgeiz gepaarte Eitelkeit zeitlos-aktuell. Händels spätes Meisterwerk „Semele“ zeigt den schillernden Weg der Königstochter Semele in die Katastrophe. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, Geliebte des Jupiters zu sein, sondern greift nach Unsterblichkeit; beim Anblick ihres Liebhabers in seiner wahren Gestalt als „mighty thunderer“ verbrennt sie. Ausgehend von „Semele“ stellen am Jungen Theater Göttingen Kinder einer dritten Grundschulklasse ihre philosophisch-ernsten Erkenntnisse zur Unsterblichkeit vor. Und sie tanzen, begleitet vom Ensemble Prisma, mit einer poetischen Unbewusstheit, die der erwachsenen Inszenierung bisweilen abging.
In einer staunenswerten Doppelleistung hat George Petrou „Semele“ am Deutschen Theater Göttingen in Szene gesetzt, mit Kreativität und Hang zum Slapstick, manchmal auf Kosten tieferer Poesie. Händels plastische, die Imagination beflügelnde Musik ist voller komischer und pastoraler Elemente. Die göttliche Juno trifft ihre Rivalin an deren schwachem Punkt und weckt für ihren Racheplan den trägen Gott des Schlafes in seiner Höhle am Lethe-Fluss. Wie sich Vivica Genaux als Juno von der tragischen Rolle am Vortag hier in einen Promi-Typ à la Jackie Onassis verwandelt, ist verblüffend.
Wo immer du auch hingehst
Auch der Chor mischt immer wieder mit, sei es in der freudig losgelöst groovenden Hymne an Cupido im Stil einer Hornpipe, sei es in dem Vanitas-Chor „Oh terror and astonishment“, in dem Händel die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens musikalisch buchstäblich verlöschen lässt: „All our boasted fire is lost in smoke“ (all unser prahlerisches Feuer löst sich in Rauch auf). Der Kammerchor Athen lief nach anfänglichen Intonationstrübungen zu großer Form auf.
Jupiter schenkt der rastlosen Semele ein ganzes Arkadien. Seine Arie „Where’er you walk“, largo und pianissimo, eine der schönsten Tenorarien in Händels Vokalwerk, singt Jeremy Ovenden mit ruhiger, souveräner Zärtlichkeit. Die Bühne verwandelt sich in ein wunderbar atmosphärisches Naturbild mit floral bemalten Seitenschals (Bühne: Paris Mexis, Licht: Stella Kaltsou). Doch das pastorale Ablenkungsmanöver kann den Sturz Semeles durch eigene Torheit nicht aufhalten. Jupiters Elend über ihren Fall ist umso größer, was Petrou genau inszeniert hat. Die Regie kommt da an ihre Grenzen, wo menschliche Eitelkeit auf Prada, Gucci e tutti quanti reduziert wird.
Die fulminante Interpretation der Semele durch die Sopranistin Marie Lys liegt nicht in vordergründigen Aktionen, sondern in stimmlicher Brillanz und gesanglichem Ausdruck; durch Händels Musik ließ sie uns bis zum Mythos durchhören.