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Europeras 1 & 2

Musiktheater aus 128 Opern in 32 Bildern von John Cage

Aufführungsdauer: ca. 2h 45' (eine Pause)

Premiere in der Jahrhunderthalle Bochum am 17. August 2012
(rezensierte Aufführung: 19. August 2012)

Logo: Ruhrtriennale 2012

Poesie des Zufalls

von Ursula Decker-Bönniger

Die Bochumer Jahrhunderthalle ist schmaler, aber etwa eineinhalbmal so lang wie ein Fußballfeld. „Montagehalle für die Kunst" nannte Gerard Mortier 2003 das Gemisch aus Zeugnissen ehemaliger Industriearchitektur und sichtbarer moderner Bühnentechnik. In Cages radikalem Opernprojekt Europera 1&2 wird sie zur Montagehalle der „objets trouvés" europäischer Operngeschichte. Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale, ehrt mit einer spektakulären Inszenierung nicht nur die besondere Komponisten- und Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts John Cage. Raumtiefe und -architektur der Jahrhunderthalle führen die Neuartigkeit des Cage-„Gesamttheaters" sozusagen entzerrt und eindrucksvoll vor Augen. 25 Jahre nach der Frankfurter Uraufführung, die mit vielerlei Kompromissen und widrigen Umständen zu kämpfen hatte, haben viele engagierte Menschen es erstmalig fertiggebracht, die in der Polyphonie des Projektes angelegten, neuen fantasievollen Theatermöglichkeiten zu einem ästhetischen Genuss werden zu lassen.


Vergrößerung in neuem Fenster Rechts Sängerin Ilse Eerens

„Life works without gouvernment". Entsprechend diesem Cage-Motto gibt es keinen Dirigenten für Sänger und Orchestermusiker. Die bis ins Detail determinierte Partitur der Europera 1&2 aus dem Jahre 2012 ist eine durch Zufallsoperationen gewonnene, an den Seiten sichtbare, zeitliche Abfolge und Struktur. Alle an dieser zeitlichen Abfolge und Struktur beteiligten Parameter wie Musik, Szene, Bühnenbild, Licht, Kostüme etc. sind gleichberechtigt und wurden in getrennten Verfahren - mithilfe dieser, dem chinesischen I-Ging nachempfundenen Zufallsoperationen - aus dem historisch-szenographischen Bild- und Musikrepertoire urheberrechtlich nicht mehr geschützter Opern ausgewählt.

Die besondere Qualität der Trennung von Szene und Musik, die sich in der Frankfurter Uraufführung auf Orchestergraben und einer, in 64 Felder aufgeteilten, quadratischen Bühne beschränken musste, kann hier in der Jahrhunderthalle in besonderer Weise entfaltet werden: Es gibt keinen Backstage-Bereich. Ob Kostüm-, Maske-, Perückenwechsel oder Aufbau eines Bühnenbildes, alles ist sichtbar. Die solistisch eingesetzten Orchestermusiker sind im Raum verteilt und auf Galerien und Brücken positioniert. Die 64 Felder für die Auftritte der Sängerinnen und Sänger erstrecken sich über eine Bühnentiefe von 90 Metern und haben je nachdem verlängerte Auftrittswege zur Folge.


Vergrößerung in neuem Fenster In der Mitte Sängerin Karolina Gumos

Besonders beeindruckend sind die teilweise gigantischen, die Raumhöhe auskostenden, kunst- und fantasievollen, historischen 32 Bühnenbilder in Europera . 32 Assistenten (Statisten, Tänzer, Techniker) sorgen für den sich teilweise überlappenden Auf- und Abbau. Nicht nur eine für uns heute ungeahnte künstlerische Qualität dieser berühmten, historischen Aquarelle, Illustrationen und Gemälde des 17., 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts wird vor Augen geführt. Sie erscheinen in unterschiedlichsten Beleuchtungseinstellungen und eröffnen teilweise zauberhafte Fantasiewelten. Ihre schrittweise Entfaltung bspw. des Urwalds, der Stadtlandschaft, des Theaters im Raum ist dabei ebenso Teil der Inszenierung wie das Auffahren der Bühnentechnik, Tanzeinlagen, vorbeihuschende Tiere oder die Darbietung der Sänger in historischer Kostümpracht.


Vergrößerung in neuem Fenster V.l.: Sänger/ Bass Frode Olsen und Sängerin/ Mezzosopran Karolina Gumos

Bei an diesem Aufführungstag gefühlten Temperaturen von 38° nimmt reibungslos, mit bewundernswürdiger logistischer Präzision ein aus verschiedensten Facetten bestehendes „Continuum" seinen Lauf. Operndramaturgie im traditionellen Sinne entfällt. Einziges strukturierendes Element ist eine von Zeit zu Zeit vom Band zugespielte Klangcollage europäischer Opern ähnlich eines vorbeiziehenden Musiktrucks. Die aus unterschiedlichen Ländern Europas stammenden Sängerinnen und Sänger haben keine eigenen Identitäten, sondern wechseln permanent ihre Rollen. Sie repräsentieren verschiedene Stimmlagen und –fächer und singen nach dem Zufallsprinzip und entsprechend dem Zeitraster der Cage-Partitur ermittelte Arien ihres Repertoires. Dabei überwiegen Werkzitate des 19. Jahrhunderts, darunter wenig bekannte Namen irischer und polnischer Komponisten wie Michael William Balfe, Mieczyslaw Karlowicz, Stanislaw Niewiadomski oder William V. Wallace. Auch Ausschnitte aus bekannten Opern sind nur selten zu identifizieren, sodass jegliches intellektuelle Entschlüsseln und Interpretieren im Keim erstickt wird.


Vergrößerung in neuem Fenster V.l.: Sängerin/ Mezzosopran Karolina Gumos und Sänger/ Bass Frode Olsen.

In Europera 1 ist alles im Fluss. Das „disparate Nebeneinander“, die „Absichtslosigkeit“, „Simultanität aller Geschehnisse“ sind zum Prinzip erhoben. Wirkung und Neuartigkeit werden einem besonders bewusst, wenn nach der Pause Europera 2 beginnt. Es wird „ernst“. Musikalisch entstanden nach denselben Zufallsoperationen wird jetzt die Operninszenierung vor Augen geführt, wie sie Cage bei seinen Europaaufenthalten vorgefunden haben mag, - eine Rezeptionshaltung, die vor Beginn des experimentierfreudigen Regietheaters die Opernlandschaft Europas prägte. Die Halle ist auf normale Bühnenmaße verkürzt. Der Bühnenboden ist erhöht. Es gibt ein in Schwarz-Weiß-Tönen gehaltenes, einer Graphik ähnelndes Bühnenbild: eine perspektivisch angelegte, die Tiefe hervorhebende Stadtlandschaft, in der sich im Verlauf der Oper der Himmel leicht einfärbt oder mit getönten Wölkchen versehen wird. Ein Hund, der von rechts nach links in Zeitlupe über die Bühne galoppiert, sorgt für leichtes Gelächter, während künstliche Starre und Unbeweglichkeit der Sängerauftritte die Konzentration auf das Hören verstärken. Gemessenen Schrittes betreten sie die vor dem Bühnenbild installierte Auftrittsbrücke. Auch die historischen Kostüme des 18., 19. Jahrhunderts sind schwarz, darunter ein typischer städtischer Biedermeier oder ein „Venezianer“ mit Maske, Dreispitz und schwarzem Umhang.

Die Orchestermusiker sind nach wie vor im Raum verteilt, sodass sie nur hier und da, als vereinzelt hinzutretende Klangfarben in Erscheinung treten. Alles konzentriert sich auf den Gesang. Ensemble- und Soloabschnitte wechseln. Mal versteigt sich die Sopranistin in dramatischen Koloraturen, mal bäumt sich der Bassbariton stimmgewaltig auf, mal säuselt der Tenor in lyrischem Liebreiz. Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein sich auf die Wirklichkeit beziehender Plot, um in die Analyse und Interpretation des Geschehens einsteigen zu können. Das hervorragend konzipierte Programmheft bietet eine aus vielerlei Opernklischees zusammengestellte Synopsis (für beide Europeras) voller Absurditäten an.


Vergrößerung in neuem Fenster Foto © Boris Brussey

Wie sehr Cage seiner Zeit voraus war, wird gegen Ende des Abends deutlich. Das Künstlergespräch, zu dem der Intendant Heiner Goebbels einlädt, ist als "Speed-Dating" organisiert. Entsprechend dem Cage-Schachbrett befinden sich 64, in der Halle verteilte Tische. Ein in der Pause gezogenes Los bestimmt, wo man Platz nimmt. Zufallsoperationen entscheiden wieder, wer einem aus dem Produktionsteam begegnet und wielange man Fragen stellen bzw. sich unterhalten kann. Zeitbegrenzung, Privatheit und Zufälligkeit der Begegnung sind eine überwältigende Erfahrung. Hier erfuhr ich von einem der zahlreichen Assistenten, dass sich an diesem Abend ein kleiner Zwischenfall ereignete: die Pyramide in Europera 1 wollte sich aufgrund eines technischen Defekts partout nicht entrollen lassen. Ich habe es weder bemerkt noch vermisst – es war ein fantastischer Abend.


FAZIT

Auch Nicht-Liebhaber moderner Musik sollten unbedingt die Chance nutzen, dieses die Cage-Intentionen bis ins Detail nachvollziehende Projekt auf sich wirken zu lassen. Es ist historische Einführung in die Opern- und Rezeptionsgeschichte und Genuss zugleich.




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Produktionsteam

Inszenierung
Heiner Goebbels

Bühne, Licht, Video
Klaus Grünberg

Kostüme
Florence von Gerkan

Choreographie
Florian Bilbao

Musikalische Einstudierung
Harry Curtis

Programmierung und Mitarbeit
Hubert Machnik

Sounddesign
Willi Bopp

Mitarbeit Regie
Matthias Mohr

Dramaturgie
Stephan Buchberger


Statisterie und Festivalorchester
der Ruhrtriennale


Solisten

Sopran
Ilse Eerens

Sopran
Asmik Grigorian

Alt
Susanne Gritschneder

Mezzosopran
Liliana Nikiteanu

Mezzosopran
Karolina Gumos

Countertenor
Yosemeh Adjei

Tenor
Robin Tritschler

Bariton
Nikolay Borchev

Bass
Frode Olsen

Bass
Paolo Battaglia




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