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Poesie des Zufalls
Die Bochumer Jahrhunderthalle ist schmaler, aber etwa eineinhalbmal so lang wie ein Fußballfeld. Montagehalle für die Kunst" nannte Gerard Mortier 2003 das Gemisch aus Zeugnissen ehemaliger Industriearchitektur und sichtbarer moderner Bühnentechnik. In Cages radikalem Opernprojekt Europera 1&2 wird sie zur Montagehalle der objets trouvés" europäischer Operngeschichte. Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale, ehrt mit einer spektakulären Inszenierung nicht nur die besondere Komponisten- und Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts John Cage. Raumtiefe und -architektur der Jahrhunderthalle führen die Neuartigkeit des Cage-Gesamttheaters" sozusagen entzerrt und eindrucksvoll vor Augen. 25 Jahre nach der Frankfurter Uraufführung, die mit vielerlei Kompromissen und widrigen Umständen zu kämpfen hatte, haben viele engagierte Menschen es erstmalig fertiggebracht, die in der Polyphonie des Projektes angelegten, neuen fantasievollen Theatermöglichkeiten zu einem ästhetischen Genuss werden zu lassen.
Life works without gouvernment". Entsprechend diesem Cage-Motto gibt es keinen Dirigenten für Sänger und Orchestermusiker. Die bis ins Detail determinierte Partitur der Europera 1&2 aus dem Jahre 2012 ist eine durch Zufallsoperationen gewonnene, an den Seiten sichtbare, zeitliche Abfolge und Struktur. Alle an dieser zeitlichen Abfolge und Struktur beteiligten Parameter wie Musik, Szene, Bühnenbild, Licht, Kostüme etc. sind gleichberechtigt und wurden in getrennten Verfahren - mithilfe dieser, dem chinesischen I-Ging nachempfundenen Zufallsoperationen - aus dem historisch-szenographischen Bild- und Musikrepertoire urheberrechtlich nicht mehr geschützter Opern ausgewählt.
Die besondere Qualität der Trennung von Szene und Musik, die sich in der Frankfurter Uraufführung auf Orchestergraben und einer, in 64 Felder aufgeteilten, quadratischen Bühne beschränken musste, kann hier in der Jahrhunderthalle in besonderer Weise entfaltet werden: Es gibt keinen Backstage-Bereich. Ob Kostüm-, Maske-, Perückenwechsel oder Aufbau eines Bühnenbildes, alles ist sichtbar. Die solistisch eingesetzten Orchestermusiker sind im Raum verteilt und auf Galerien und Brücken positioniert. Die 64 Felder für die Auftritte der Sängerinnen und Sänger erstrecken sich über eine Bühnentiefe von 90 Metern und haben je nachdem verlängerte Auftrittswege zur Folge.
Besonders beeindruckend sind die teilweise gigantischen, die Raumhöhe auskostenden, kunst- und fantasievollen, historischen 32 Bühnenbilder in Europera . 32 Assistenten (Statisten, Tänzer, Techniker) sorgen für den sich teilweise überlappenden Auf- und Abbau. Nicht nur eine für uns heute ungeahnte künstlerische Qualität dieser berühmten, historischen Aquarelle, Illustrationen und Gemälde des 17., 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts wird vor Augen geführt. Sie erscheinen in unterschiedlichsten Beleuchtungseinstellungen und eröffnen teilweise zauberhafte Fantasiewelten. Ihre schrittweise Entfaltung bspw. des Urwalds, der Stadtlandschaft, des Theaters im Raum ist dabei ebenso Teil der Inszenierung wie das Auffahren der Bühnentechnik, Tanzeinlagen, vorbeihuschende Tiere oder die Darbietung der Sänger in historischer Kostümpracht.
Bei an diesem Aufführungstag gefühlten Temperaturen von 38° nimmt reibungslos, mit bewundernswürdiger logistischer Präzision ein aus verschiedensten Facetten bestehendes Continuum" seinen Lauf. Operndramaturgie im traditionellen Sinne entfällt. Einziges strukturierendes Element ist eine von Zeit zu Zeit vom Band zugespielte Klangcollage europäischer Opern ähnlich eines vorbeiziehenden Musiktrucks. Die aus unterschiedlichen Ländern Europas stammenden Sängerinnen und Sänger haben keine eigenen Identitäten, sondern wechseln permanent ihre Rollen. Sie repräsentieren verschiedene Stimmlagen und fächer und singen nach dem Zufallsprinzip und entsprechend dem Zeitraster der Cage-Partitur ermittelte Arien ihres Repertoires. Dabei überwiegen Werkzitate des 19. Jahrhunderts, darunter wenig bekannte Namen irischer und polnischer Komponisten wie Michael William Balfe, Mieczyslaw Karlowicz, Stanislaw Niewiadomski oder William V. Wallace.
Auch Ausschnitte aus bekannten Opern sind nur selten zu identifizieren, sodass jegliches intellektuelle Entschlüsseln und Interpretieren im Keim erstickt wird.
In Europera 1 ist alles im Fluss. Das disparate Nebeneinander, die Absichtslosigkeit, Simultanität aller Geschehnisse sind zum Prinzip erhoben. Wirkung und Neuartigkeit werden einem besonders bewusst, wenn nach der Pause Europera 2 beginnt. Es wird ernst. Musikalisch entstanden nach denselben Zufallsoperationen wird jetzt die Operninszenierung vor Augen geführt, wie sie Cage bei seinen Europaaufenthalten vorgefunden haben mag, - eine Rezeptionshaltung, die vor Beginn des experimentierfreudigen Regietheaters die Opernlandschaft Europas prägte.
Die Halle ist auf normale Bühnenmaße verkürzt. Der Bühnenboden ist erhöht. Es gibt ein in Schwarz-Weiß-Tönen gehaltenes, einer Graphik ähnelndes Bühnenbild: eine perspektivisch angelegte, die Tiefe hervorhebende Stadtlandschaft, in der sich im Verlauf der Oper der Himmel leicht einfärbt oder mit getönten Wölkchen versehen wird.
Ein Hund, der von rechts nach links in Zeitlupe über die Bühne galoppiert, sorgt für leichtes Gelächter, während künstliche Starre und Unbeweglichkeit der Sängerauftritte die Konzentration auf das Hören verstärken. Gemessenen Schrittes betreten sie die vor dem Bühnenbild installierte Auftrittsbrücke. Auch die historischen Kostüme des 18., 19. Jahrhunderts sind schwarz, darunter ein typischer städtischer Biedermeier oder ein Venezianer mit Maske, Dreispitz und schwarzem Umhang.
Wie sehr Cage seiner Zeit voraus war, wird gegen Ende des Abends deutlich. Das Künstlergespräch, zu dem der Intendant Heiner Goebbels einlädt, ist als "Speed-Dating" organisiert. Entsprechend dem Cage-Schachbrett befinden sich 64, in der Halle verteilte Tische. Ein in der Pause gezogenes Los bestimmt, wo man Platz nimmt. Zufallsoperationen entscheiden wieder, wer einem aus dem Produktionsteam begegnet und wielange man Fragen stellen bzw. sich unterhalten kann. Zeitbegrenzung, Privatheit und Zufälligkeit der Begegnung sind eine überwältigende Erfahrung. Hier erfuhr ich von einem der zahlreichen Assistenten, dass sich an diesem Abend ein kleiner Zwischenfall ereignete: die Pyramide in Europera 1 wollte sich aufgrund eines technischen Defekts partout nicht entrollen lassen.
Ich habe es weder bemerkt noch vermisst es war ein fantastischer Abend.
Auch Nicht-Liebhaber moderner Musik sollten unbedingt die Chance nutzen, dieses die Cage-Intentionen bis ins Detail nachvollziehende Projekt auf sich wirken zu lassen. Es ist historische Einführung in die Opern- und Rezeptionsgeschichte und Genuss zugleich.
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Produktionsteam
Inszenierung
Bühne, Licht, Video
Kostüme
Choreographie
Musikalische Einstudierung
Programmierung und Mitarbeit
Sounddesign
Mitarbeit Regie
Dramaturgie
Solisten
Sopran
Sopran
Alt
Mezzosopran
Mezzosopran
Countertenor
Tenor
Bariton
Bass
Bass
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- Fine -