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Kultur

Einfach nur Arien singen und Tee trinken

Freier Feuilletonmitarbeiter
Georg in Downton Abbey: Die Göttinger Händel-Festspiele starten mit der Opernrarität „Siroe“ neu durch

Darüber muss aber ein gewaltiger Wirbelsturm hinweggefegt sein. Denn von diesem Haus steht nur noch ein Kern mit fünf Zimmern, zu ebener Erde und im ersten Stock. Es wird dort mal prachtvoll gewesen sein, die Treppe in der Eingangshalle, Brokattapeten und ein Marmorkamin künden davon. Jetzt ist es fast ohne Möbel, es sind nur noch Ansätze der Böden vorhanden, zwischen dem abgerissenen Mauerwerk, hängen Teppichfasern, ragen kaputte Parketthölzer und gebrochene Ziegel.

Darüber aber trippeln die Angehörigen einer wohl noblen Familie samt Tee servierender Kammerzofe. Beständig und der Tageszeit entsprechend werden Kleider und Roben gewechselt. Vom Smoking ins Negligé, vom Reitzeug ins Freizeitdress, von der Dinner-Tiara in die Gym-Hose. Schnell geht uns auf: Hier wird zwar Contenance gewahrt und man zelebriert weiterhin soziale Rituale. Doch anders als in Downton Abbey geht man sich hier auch an die Gurgel, bedroht einander mit der Pistole, ist mordsmäßig eifersüchtig, von Liebeswahn zerfressen. Und weil die einst edle Bruchbude nur ein sanft rotierendes Bühnenhaus ist, ist dieses natürlich vor allem Metapher, an der ein emotionaler Orkan nicht spurlos vorbeigegangen ist.

Die marode Residenz eines sagenhaften Perserkönigsgeschlechts als Abbild des dort sehr schief hängenden Haussegens, sie ist ein sinnfällig und schlagkräftig einfaches, sogar billiges Bild, das sich Immo Karaman von Timo Dentler für die im Deutschen Theater erstmals und auch sonst so gut wie nie zu sehende Händel-Oper „Siroe, König von Persien“ hat bauen lassen. Und es könnte sein, dass es vielleicht auch als Symbol taugt für einen Neuanfang der so traditionsreichen Göttinger Händel-Festspiele.

Die waren schließlich nicht nur die ersten, die den „lieben Sachsen“ wieder für die Bühne entdeckten, sie sind seit 1920 auch das weltweit erste Festival der Alten Musik. Bei Händel aber bekamen sie direkte Konkurrenz in Halle und Karlsruhe, schließlich durch den Barockboom auch an vielen großen Opernhäusern, die „Xerxes“, „Julius Cäsar“, „Rodelina“ und die viele Dutzend anderen Musiktheaterwerke einfach besser und opulenter spielen. Das sonst opernlose Göttingen kann da mit seinem Minibudget nicht mithalten, und zudem waren zwanzig Jahre mit Nicholas McGegan als Chef einfach ein paar zu viel.

Seit letztem Sommer regiert hier an der Leine zwar mit Laurence Cummings wieder ein dirigierender Brite, aber der hat jetzt offenbar schon viel bewegt, optisch wie akustisch. Das früher gerne ins routinierte Rattern einer barocken Nähmaschine verfallende Festspielorchester hat plötzlich Körper und Biss, klingt voluminös und plastisch und schmiegt sich trotzdem flexibel an die nicht allzu großen Solistenstimmen.

Nicht nur mit der einfachen wie inspirierten, die übliche Intrigenhaltung der Seria mit immer den/die Falsche/n Liebenden, übergangenen Erstgeborenen, verstockten Vätern, verkleideten Prinzessinnen und flatterhaften Maitressen zielstrebig am Laufen haltenden Inszenierung hat man programmatisch einen Stich gemacht. Auch das Stück, das sich prima in das locker gefügte „Orient!“-Motto dieser zwölf musikalischen Maientage reiht, ist eine Überraschung.

Man hat es hier (wenn auch ein wenig verstümmelt) mit einem der ersten Libretti des später unter dem Namen Metastasio das barocke Opernjahrhundert als Textdichter dominierenden Pietro Antonio Trapassi zu tun. Und wie der hier sein großes Thema der falsch verstandenen Vaterliebe, von Verzicht und Verzeihen ausformuliert und variiert, das ist – bei aller gattungsspezifischen Umständlichkeit – einmal mehr erstaunlich.

Darüber hinaus stammt Händels 24., am Londoner King’s Theatre 1728 uraufgeführte Oper aus seiner besten und fruchtbarsten Zeit. Sie strotzt vor mit Verzierungen und Geläufigkeitsübungen die Menge angefüllten Arienkostbarkeiten für seine drei berühmtesten Stars: den Altkastraten Senesino sowie die beiden sich gern auch auf offener Bühne zickenbekriegenden Primadonnen Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni. Und einen seiner besten Koloraturbässe hatte Händel ebenfalls zur Verfügung. Seine große Kunst ist es freilich einmal mehr, in „Siroe“ nicht nur vokale Eitelkeiten zu befriedigen, sondern ein packendes Drama mit individuellen Gefühlsregungen zu komponieren, die auch nach fast 300 Jahren noch das Publikum rühren.

Da Senesino ein ziemlich universeller Sänger war, ist der äthiopische Countertenor Yosemeh Adjei rundum gefordert. Er musst eine Blondperücke trage, darf aber Brust- und Kehlkopfmuskeln zeigen. Anna Demnis, die als Emira in Jungsverkleidung und mit knäbischem Sopran Rache sucht, ist mit der Adagio-Vorliebe der Bordoni bestens bedient, während Aleksandra Zamojska von den für die geläufige Cuzzoni-Gurgel komponieren Showstücken der Laodice bisweilen zum gar nicht nachtigallen Piepsen gezwungen wird. Hinter denen sowie dem depressiv-debilen, die ganze Fatalität in Gang bringenden Altkönig Cosroe (Lisandro Abadie) räumt als zickige, „Das Volk“ vorstellende Dienstmamsell die Tänzerin Bettina Fritsche teetrineneifrig ab und auf: eine manische Erscheinung in einer ähnlich aufgelegten, von ihren Gefühlen gepeitschten Familie, der man vier Stunden gebannt zuschaut.

Termine: 14., 15., 19., 20. Mai; am 20. Juli deutschlandweit im ARD-Radiofestival

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