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Bühne und Konzert „Tell“ in Hamburg

Dieser Apfelschuss ging voll daneben

Sie kämpfen mit Ferdinand Holder im Rücken um eine besser Schweiz: Arnold Melchthal (Yosep Kang) und die Habsburgerin Mathilde (Guanqun Yu) Sie kämpfen mit Ferdinand Holder im Rücken um eine besser Schweiz: Arnold Melchthal (Yosep Kang) und die Habsburgerin Mathilde (Guanqun Yu)
Sie kämpfen mit Ferdinand Holder im Rücken um eine besser Schweiz: Arnold Melchthal (Yosep Kang) und die Habsburgerin Mathilde (Guanqun Yu)
Quelle: Brinkhoff/Mögenburg
Der Schweizer Schauspielregisseur Roger Vontobel probierte in Hamburg erstmals Oper. Und schoss mit dem komplexen, auf politisch gebürsteten „Guillaume Tell“ von Rossini politisch übers Ziel hinaus.

Wer jetzt etwas inszeniert, das mit Schweiz zu tun hat, fühlt sich, um nicht als weltfremd oder unpolitisch zu gelten, geradezu verpflichtet, auch etwas über Abschottung, Separatismus, Nationalismus zu sagen. Klar, dass da bei „Tell“ besonders viel zu tun ist ‑wie jetzt an der Hamburger Staatsoper.

Dort stürzte sich Regisseur Roger Vontobel, dem wir im Schauspiel Großartiges und Preisgekröntes verdanken, auf Rossinis „Guillaume Tell“. Als Einstieg für den 1977 in Zürich geborenen Opern-Novizen also gleich das wegen vokaler Höchstansprüche sowie personellen Großeinsatzes (Chöre, Ballett) selten gespielte Gipfelwerk des italienischen Superstars; zuletzt in Hamburg anno 1915.

Mit dem etablierte Rossini 1829 in Paris das Genre der Grand opéra, wofür er das Schiller-Stück ziemlich frei adaptierte. Jetzt steht vor dem Hintergrund des Freiheitskampfs der Eidgenossen gegen die österreichische Fremdherrschaft (opulenter Chorbetrieb) im Mittelpunkt die fragile Liebe zwischen dem Bergburschen Arnold (Yosep Kang) und der habsburgischen Prinzessin Mathilde (Guanqun Yu) aus „feindlichem Lager“. Eine Königskinder-Story, die Rossini fein Anlass gibt, seine Belcanto-Kunst genüsslich auszubreiten. Statt „Tell“ müsste es neu „Arnold & Mathilde“ heißen.

Die Protagonisten dürfen an die Rampe

Für deren sagenhafte Stimmbandartistik überlässt die Opern-Erstregie den bewundernswerten Protagonisten artig die Rampe. Für die Chöre (böse Habsburger Kalaschnikow-Kämpfer in schwarzer Montur, brave Kantonisten im biederen C&A-Kleinbürger-Look) gibt es links- oder rechtsdrehende Scheiben in der Bühnenmitte, passend für ihre täppisch drängelnden Auf- und Abgänge. Und die genretypischen Ballettmusiken? Gestrichen. Wie praktisch, muss sich keiner drum kümmern.

Umso mehr hat sich die Dramaturgie um den vermeintlich ach so strikt erforderlichen Gegenwartsbezug bemüht. Annonciert sie doch Rossinis Klassiker als „Stück der Stunde“. Und meint, das gehe so: Die Spießer am Vierwaldstätter See hätten sich längst arrangiert mit der Fremdherrschaft, was Tell nervt. Der nämlich wolle den Rechtsbestand vor der repressiv-ausländischen Besetzung zurück haben.

Wilhelm Tell als Blocher der Oper: Sergei Leiferkus
Wilhelm Tell als Blocher der Oper: Sergei Leiferkus
Quelle: Brinkhoff/Mögenburg

Um nun die trägen Kantonisten in den Widerstand zu treiben, so die entwickelte Theorie, provoziere Tell (Sergei Leiferkus mit Schlips im grauen Büroanzug) die Besatzungsmacht derart, dass sie extrem reagiert. Das gipfelt im Befehl des Besatzer-Chefs Gessler (Vladimir Bykov wie Tell in Bürokluft), die Untertanen sollen seinen Hut grüßen (hier ein weißer Lappen! oder ein Unterhemd?). Und natürlich in der Apfelschuss-Horrorshow.

Wilhelm Tell ein AfD-Vorläufer?

Es klappt, die Strafaktionen treiben das träge Volk auf die Barrikade. Die Schweiz ist wieder ganz bei sich, abgeschottet von derart feindlich Fremden. Und all das soll reaktionär sein? Und Tell ein AfD-Vorläufer? ‑ Ein Ideologiekonstrukt, dem Vontobel erstaunlich diffus gegenüber steht. Bleibt er doch hängen im Misstrauen gegenüber Rossini, den dramaturgischen Ansagen, gegenüber sich selbst. Er wabert, was nichts mit poetischer Ambivalenz zutun hat, sondern mit Hilflosigkeit und Halbherzigkeit. Was in jeder Hinsicht inkorrekt und streng verboten ist. Verärgertes Kopfschütteln im Publikum, ob es nun zuvor das schlaumeierische Programmheft gelesen hat oder nicht.

Hier wird der Staat saniert
Hier wird der Staat saniert
Quelle: Brinkhoff/Mögenburg

Doch da gibt es ja noch den vermeintlich so signifikanten Grundeinfall der Bühnenbildnerin Muriel Gerstner (oder des Dramaturgen Albrecht Puhlmann oder gar des von korrekter Propaganda gestressten Regisseurs?): Das Halbrund der Hinterbühne ist bespannt mit Ferdinand Hodlers Breitwandschinken „Die Einigkeit“ von 1915; darstellend den Rütli-Schwur. Vor einem Sperrgitter der Hinweis: „Attention Restauration“.

Wir kapieren: Der Tell will das alte schöne Bild zurück, will nicht nur dessen Restaurierung, sondern gesellschaftliche Restauration überhaupt; will, wir ahnen es, den Freiheitskampf als Schritt in autonome Verhältnisse – gegen Zuwanderung, gegen EU, gegen etc. Rossinis 1829 und Schillers Mittelalter wird das Heute von 2016 übergestülpt, denn zum finalen „Freiheits“-Jubel haben die Schweizer ihre billigen Kaufhausklamotten abgelegt und posieren – wie auf Holders Bild – historisch kostümiert.

Rossini politisch korrekt verfremdet

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Muffige Mittelalter-Maskerade als Sinnbild der gegenwärtigen Schweiz. Rossini politisch korrekt verfremdet. Seine Grand opéra verkleinert, sein durchaus schwierig Patriotisches pauschal denunziert um einer schalen Provokation willen. Und immer, wenn der Komponist alpensinfonisch Naturgefühl ausbreitet, fallen Trüblicht und Nebelschwaden ins Einheitsbühnenbild mit den Kreiselscheiben vorm Hodler-Rundhorizont, der freilich von Gesslers zensorischen Schergen rechtzeitig übermalt wurde, derweil die gefallenen Freiheitshelden am Boden liegen. Überlebende pinseln ihnen Blut auf die Bäuche.

Von all dem unbeeindruckt tönt einigermaßen subtil (Rossini kann so betörend zart und luftig sein) das Philharmonische Staatsorchester unter Gabriele Ferro. Ganz ohne teutonisches Humtata. Spröder Beifall nebst Buh.

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