Ungewöhnliche visuelle Reize und ein leuchtendes Orchester sorgen an der Komischen Oper für einen gelungenen Abend.

Die Aufführung beginnt als bunter Zeichentrickfilm auf dem weißen Rückprospekt. Es ist alles trubelig und unübersichtlich, man befindet sich auf einem Jahrmarkt, vermutlich einem der frühen Sowjetunion, wie es die einmontierten Plakate der Jahrmarktsbuden suggerieren. Die ungewöhnlichen visuellen Reize in dieser Doppelpremiere an der Komischen Oper könnten leicht das Akustische aus dem Orchestergraben verdecken – doch das tun sie von Anfang bis Ende nicht: Das Orchester leuchtet von den ersten flirrenden Klangflächen der Holzbläser in Igor Strawinskys Ballett „Petruschka“ bis zu dem friedvollen Streicher-Ende von Maurice Ravels „L’Enfant et les Sortilèges“ („Das Kind und die Zauberdinge“) die Partituren mit enormer Klangschönheit aus.

Dirigent Markus Poschner, vor zehn Jahren Kapellmeister am Haus, sorgt für die bedingungslose Präsenz seiner Musiker über die Dauer von zwei Stunden. Er erinnert daran, dass Igor Strawinsky seine tragische Geschichte der Jahrmarktspuppe Petruschka einst als reines Konzertstück dachte – so bühnenaffin die Musik auch sein mochte. Dennoch war dies das erste wirklich zukunftsweisende Werk Strawinskys, das den großen Ballett-Impresario Sergej Diaghilew im Jahr 1910 dazu veranlasste, es in damals revolutionärer Weise von seinen Ballets russes in Paris auf die Bretter bringen zu lassen. Die Ambivalenz zwischen der motorischen Unbeseeltheit einer Marionette und dem durch Magie erwachten, zartfühlenden Inneren von Petruschka waren das, was den Nerv eines damals von unheimlichen maschinellen Neuerungen umstellten Publikums traf.

In der Komischen Oper wiederum dient „Petruschka“ als Seismograf einer anderen Revolution, nämlich der digitalen – und auch hier wird die Ambivalenz zwischen Menschlichem und Maschinellem in eine wirkungsvolle künstlerische Form gegossen. Die britische Theatertruppe „1927“ um den Illustrator Paul Barritt und die Performerinnen Suzanne Andrade und Esme Appleton hat dies besorgt. Sie ist dem Publikum des Hauses bestens bekannt durch eine umjubelte „Zauberflöte“ aus dem Jahr 2012.

Es war der erste Einkauf des damals neuen Intendanten Barrie Kosky: eine Produktion, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Vereinigung von singenden Menschen und projiziertem Licht und Zeichentrick damals so etwas wie einen Kuriositätenstatus erhielt. Die Interaktion von Mensch und Maschine hat das „1927“-Team in „Petruschka“ und „L’enfant“ noch einmal perfektioniert. Dabei zieht das Team von Anfang an eine strenge Trennlinie zwischen seiner Bühnenkunst und etwa einem süffig durchanimierten Disney-Cartoon: Der Clown Petruschka (das russische Pendant zum deutschen Kasperle) und seine Mit-Puppen – die empfindsame Akrobatin und der etwas tumbe Gewichtheber – scheinen als leibhaftige Tänzer agiler als die dämonisch aus den animierten Zeichnungen erstehende Welt um sie herum.

Illustrator Paul Barritt arbeitet mit Scherenschnitten

Das ist fürs Auge eine höchst reizvolle Reibungsfläche. Die Figuren sind von ganz unterschiedlicher ästhetischer und technischer Herkunft: Mal arbeitet Paul Barritt mit Scherenschnitten – etwa bei einer unheimlich über Petruschka kommenden Riesenratte – mal greifen die überlebensgroßen schwarzen Hände des Magiers gleich einer Hand Gottes vom oberen Rand der Bühne auf die Tänzer zu und verzaubern sie. Tiago Alexandre Fonseca zeigt als Petruschka eine so agile Lockerheit, dass er als Tänzer mit der Identität als Clown so gut wie verschmilzt.

Sieht man – wie Strawinsky es wohl seinerzeit durchaus sah – die magisch verzauberte Puppe Petruschka nicht als Roboter, sondern als manipulierte Natur an, so ist dies der gedankliche Punkt, von dem die Gruppe „1927“ den Faden zum zweiten Teil des Abends spinnt: Ravels „L’ Enfant et les Sortilèges“ ist eine Parabel auf die fatal lieblose Zurichtung der Natur durch den Menschen. Das unartige Kind ist der Diktator seiner Umwelt aus Spielzeug und Tieren. Es traktiert sie mit grausamen Spielen, und die Tiere und Gegenstände schlagen nach langem Leiden in einem kindlichen Albtraum zurück. Nun steht die Sängerin der Titelpartie Nadja Mchantaf, gekleidet in einen Kinder-Militäranzug, in dem projizierten Cartoon-Kinderzimmer und ersäuft fast im über sie gegossenen Inhalt der rachsüchtigen Kaffeekanne.

Doch „1927“ belässt es nicht bei der unterhaltsamen Illustration. Die Schafe von der Tapete, die in Stücke gerissen wurde, findet das Kind in einer Ersten-Weltkriegs-Szenerie wieder – auf einem Feld, das sich gespenstisch in einen riesigen Soldatenfriedhof verwandelt. So verknüpfen sich am Ende die Traumata des Weltkriegsveteranen Ravel mit unseren eigenen noch recht unkonkreten Ängsten über den Zusammenbruch der westlichen Welt.

Deren Ordnung und Unordnung wird ja nicht zuletzt durch das Zusammenwirken von Mensch und unsichtbarer digitaler Maschine befeuert. Wie sich beide – elektronisch animiert abschnurrende Bilder und darstellende, singende Körper – unauflöslich ineinander verhakeln: Dies zu zeigen, ist das große Verdienst dieses Abends.