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Umberto Giordanos Oper „Andrea Chénier“ feiert in Kassel Premiere

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Gewalt in Zeiten des Aufruhrs: (vorn von links) Hee Saup Yoon (Mathieu), Hansung Yoo (Carlo Gérard, liegend) und Daniel Jenz (Incredibile, ganz rechts) sowie Chormitglieder. 2 Fotos: Klinger
Gewalt in Zeiten des Aufruhrs: (vorn von links) Hee Saup Yoon (Mathieu), Hansung Yoo (Carlo Gérard, liegend) und Daniel Jenz (Incredibile, ganz rechts) sowie Chormitglieder. © Klinger

Kassel. Warum Umberto Giordanos Oper „Andrea Chénier“ nicht zum Kernrepertoire deutscher Opernbühnen zählt, ist kaum zu verstehen. Am Samstag hatte das Werk in Kassel Premiere.

Die Oper wurde 1896 fast gleichzeitig mit Puccinis „La Bohème“ uraufgeführt. Im ausverkauften Kasseler Opernhaus wurde es am Samstag ausgiebig bejubelt. 

Giordano und sein Librettist Luigi Illica binden das Liebesverhältnis zwischen dem Dichter Andrea Chénier und der Adelstocher Maddalena di Coigny, das für beide auf dem Schafott enden wird, eng in die Geschehnisse der Französischen Revolution ein.

Diese Liebe erfährt so nicht nur eine dramatische Steigerung, sondern gewinnt auch politische Relevanz. Und in dem Domestiken Carlo Gérard, der zum Revolutionär wird, dann aber an seiner unerfüllbaren Liebe zu Maddalena scheitert, verkörpern sich die Widersprüche einer Revolution, die inzwischen korrumpiert ist und Schrecken verbreitet. Dabei widersteht Giordano der Versuchung, die Revolution insgesamt zu denunzieren, indem er das Elend der Bevölkerung in eindringlichen Szenen vorführt.

So komplex wie das Stück ist Giordanos Musik, die in starken Kontrasten zwischen zarter Poesie, dramatischen Ausbrüchen und bekenntnishaftem Pathos changiert und in herrlichen Arien kulminiert. Kassels neuer Generalmusikdirektor Francesco Angelico lässt diese Musik in all ihrer Farbigkeit, aber auch in ihrer Dringlichkeit und Gewalt aufscheinen und vereint die gegensätzlichen Momente unter einem großen Spannungsbogen.

Das hervorragend disponierte Orchester malt die Stimmungen detailreich aus, klingt niemals pauschal, und der äußerst präsente Chor sorgt für dramatische Dichte. Als wahrer Glücksfall erweisen sich die Solisten: Hansung Yoo, ein traumhafter Bariton, führt die Komplexität und Zerrissenheit des Revolutionärs Gérard mit kraftvollem Ausdruck und feinen Nuancierungen vor – bis zur fatalen Erkenntnis: „Ich glaubte ein Riese zu sein und bin immer ein Sklave geblieben.“

Die Kraft der Poesie und das Pathos eines Dichters verkörpert Gasttenor Rafael Rojas aufs Eindringlichste und mit stimmlicher Brillanz. Mit unglaublichen stimmlichen Reserven, aber auch zartesten Farben stattet Vida Mikneviciute Maddalena in ihrer Verzweiflung, aber auch in ihrer emotionalen Stärke aus. Ein Höhepunkt: das grandiose Schlussduett des Paares. Im vorzüglichen Ensemble setzen Lona Culmer-Schellbach (Gräfin/Madelon), Daniel Jenz (Incredibile) und Hee Saup Yoon (Mathieu) besondere Akzente.

Regisseur Michael Schulz („Die Frau ohne Schatten“) belässt der Handlung ihre starke historische Verortung. Als Rahmen wird eine Theatersituation geschaffen (Bühne: Dirk Becker), doch bleibt es bei der Andeutung. So beginnt das Stück im Schloss Coigny als heiteres Rokoko-Spiel (Kostüme: Renée Listerdal), in das alsbald die Vorboten der Revolution eindringen. Das Stück (und die Theaterkulissen) wenden sich, als die Handlung ins Jahr 1794 springt – in die Endphase der Revolution.

Warum hier die eindringlichen Massenszenen, die die Verführbarkeit der Menschen, aber auch ihre Not zeigen, mit modernen Einsprengseln wie Verkehrsschildern versehen werden und die fanatisierte Bevölkerung mit ihren Handys eine Selfie-Orgie mit den Verurteilten startet, wird allerdings nicht einsichtig.

Völlig daneben geht Schulz’ Schlusspointe, bei der Maddalena der gemeinsame Tod mit Chénier verwehrt wird und ihr stattdessen der abgeschlagene Kopf des Dichters überreicht wird. Muss man den letzten Satz des Paares „Es lebe der gemeinsame Tod!“ so konterkarieren – und was wird damit über die Oper insgesamt ausgesagt?

Die nächsten Aufführungen: 16., 21. und 24.9., Kartentelefon 0561 / 1094-222, www.staatstheater-kassel.de

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