Der Vorabend zu Richard Wagners Tetralogie live an der Wiener Staatsoper oder doch lieber Anna Netrebko als Verdis Lady Macbeth im Kino (in einer Übertragung aus dem Royal Opera House in Covent Garden)? Eine schwere Entscheidung für Opernfreunde, oder, um ein geflügeltes Wort von Helmut Qualtinger zu zitieren: „Das nenn‘ ich Brutalität! Ich habe mich in dieser Partie auf die Seite der Heimmannschaft geschlagen und keine Sekunde bereut.”

Könnte man nur mit allen Entscheidungen so gut leben wie ich mit dieser! Welch fatale Konsequenzen eine falsche oder vielleicht auch nur unvorsichtig getroffene Entscheidung im Leben haben kann, davon wird im Ring mehr als nur ein Lied gesungen. Im Prinzip wird dessen gesamtes Personal von einer falschen Entscheidung getrieben, und die Lösung des daraus resultierenden Problems birgt schon das nächste in sich. Wotan hat sich von Fafner und Fasolt ein Haus auf Kredit bauen lassen (als Statussymbol, vielleicht auch weil Schmuck als Wiedergutmachung für die oft betrogene Ehefrau nicht mehr genügt) und vergessen, sich um die Finanzierung zu kümmern – als oberster Gott hat er wohl damit gerechnet, dass den Riesen die Ehre, sein Haus zu bauen, genügen wird. Derartige Fehleinschätzungen, die auf Selbstüberschätzung und Geringschätzung von anderen beruhen, sind neben der Kapitalismuskritik ein wesentliches Thema im Rheingold. Die Rheintöchter rechnen nicht damit, dass Alberich „der Minne Macht entsagt“, wohingegen Alberich sehr wohl recht hat, wenn er Loge vorhält, „andre denkt er immer sich dumm“, nur um kurz darauf Opfer seiner eigenen Angeberei zu werden.

Die Inszenierung von Sven-Erich Bechtolf vermittelt immerhin derartige Einsichten. Sie geht mittlerweile in ihre zehnte Saison und ihr hervorstechendstes Merkmal ist, dass das Rheingold als erotische Ersatzbefriedigung dient und in Körperteile geschmiedet wird. Nachdem Fafner seinen Bruder erschlagen hat, erfreut er sich daher an einer goldenen Frauenstatue. Ansonsten wird ein wenig mit Licht gespielt, und das war es dann auch schon. Fairerweise muss man sagen, dass sich Bechtolf seine Personenregie gut überlegt hat, und diese nach wie vor erkennbar ist –  vielleicht auch, weil Sängerinnen und Sänger der Premierenbesetzung immer wieder im Einsatz sind.

An vorderster Stelle gilt das für Tomasz Konieczny, der als Alberich begonnen hat und längst zu Wotan gereift ist. Auch in dieser Partie konnte er seine Stärken, eine überaus agile, virile Bassstimme mit schmetternder Höhe, bestens zur Geltung bringen. Für den jugendlichen Rheingold-Wotan, der ohne Loge ratlos ist und sich doch immer wieder donnernd in Szene setzt, war er somit eine Idealbesetzung. Mit Norbert Ernst als Loge bildete er ein kongeniales Duo. Ernst verstand es nicht nur, mit messerscharfer Diktion zu überzeugen, sondern fand auch verschiedene Stimmfarben für diesen wetterwendischen Charakter. Stets war er in Bewegung, wirbelte zum Loge-Motiv herum, sprang auf Felsen oder bewegte sich schlangenartig am Boden, und verlor doch nie seinen Atem. Ein großes Bravo für diese Leistung.

Martin Winkler ist für mich einer der interessantesten Sänger der letzten Jahre, insofern habe ich sein Staatsoperndebüt mit Spannung erwartet und ihn natürlich auch als Alberich in der zur Triologie verkürzten Tetralogie am Theater an der Wien beobachtet. Da wie dort bewies er vordergründig Mut zur Hässlichkeit, doch legte Winkler seine Partien nie eindimensional an. Stimmlich war sein Alberich von zwielichtigem Charakter, der eher eine Verwandtschaft mit Loge denn mit seinem Bruder Mime vermuten lässt. Den Ring-Fluch gestaltete er nicht als emotionalen Ausbruch, sondern eher als eine kühle Prophezeiung und gefährliche Drohung des Gedemütigten. Ein ebenfalls gelungenes Rollendebüt gab Ryan Speedo Green als Fasolt, der dem bewährten Fafner von Sorin Coliban ein Partner auf Augenhöhe war. Mime, Froh und Donner waren mit Herwig Pecoraro, Jörg Schneider und Clemens Unterreiner ausgezeichnet besetzt.

Als Woglinde war Daniela Fally eine Bereicherung. Bei ihrem kurzfristig angesetzten Rollendebüt zusammen mit Stephanie Houtzeel (Wellgunde) und Bongiwe Nakani (Flosshilde) bildete sie eines der besten Rheintöchter-Trios, das mir je untergekommen ist. Bei mittelmäßigen Rheintöchtern habe ich mir oft schon bei „Leialalei!“ gewünscht, Alberich möge die eine oder andere erwischen und zum Schweigen bringen, aber an diesem Abend hatte ich keinen Grund zur Klage; statt waberndem Vibrato hörte man jugendlich-klare Frische. Michaela Schuster verlieh Fricka die nötige Strenge und Schärfe, Gabler traf Freias angstvoll hohe Töne kraftvoll. Als Erda überzeugte Monika Bohinec.

Beim versierten Wagner-Dirigenten Ádám Fischer ist der Ring in besten Händen; ein derartiges Mammut-Projekt profitiert insbesondere im Repertoire davon, wenn Orchester und Dirigent einander kennen. Das Publikum dankte ihm für seine zahlreichen Einsätze für die Sache schon mit kräftigem Auftrittsapplaus und wurde nicht enttäuscht. Die Tempi immer frisch und zügig, arbeitete dieser das Lautmalerische der Partitur und den Witz, mit dem das Ring-Personal gezeichnet ist, bestens heraus, die musikalischen Wendungen gelangen elegant.

Das Orchester gab sich diszipliniert; nur die Hörner wirkten anfangs grob und wenig eingespielt, gegen Ende waren ein oder zwei Ermüdungs-Kiekser zu hören. Davon ging aber die Welt im Ring (noch) nicht unter: Nach diesem Einstieg herrscht große Vorfreude auf das, was noch kommt.

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