Nicola Berloffas «Don Carlo»-Inszenierung am Theater St. Gallen setzt konsequent auf die persönlichen Konflikte der Figuren. Damit gelingt ein Verdi, der unter die Haut geht. Die Premiere am Samstag wurde zum Belcantoereignis und zum Kostüm- und Lichtfest.
Fliederfarben das Kleid von Elisabetta, königsblau das der Principessa Eboli. Es sollten kostümbildnerisch die einzigen Farben inmitten der schwarzen Kostüme bleiben. Alessandra Facchinettis Kostüme mit St. Galler Spitzen begeisterten in ihrer Üppigkeit und Eleganz, vor allem aber in ihrem Fluss. Die Kleider sind nur eines von vielen Elementen, die zu einem grossartigen Opern-Gesamtpaket beitrugen und einen faszinierenden «Don Carlo» garantierten.
Friedrich Schiller, auf den sich Verdis Librettisten stützen, hat sein Drama selbst als «Familiengemälde aus einem königlichen Haus» bezeichnet. Das nimmt Nicola Berloffa in seiner packenden, klaren, intensiven Inszenierung ernst. Das Stück ist angenehm entrümpelt von allzu viel komplizierter europäischer Geschichte des 16. Jahrhunderts.
Berloffa fokussiert stringent auf die inneren Konflikte der Figuren, auf ihre seelischen Gefängnisse, ihr Verhaftetsein in Konventionen und Unsicherheiten. Die Figuren singen oft verzweifelnd sich selbst an Wände drückend oder in sich zusammengesunken auf Stühlen. Konsequent sind sie in Zimmern eingeschlossen, mit roten und anfänglich grauen Wänden (Bühne: Fabio Cherstich), unfähig ihrer eigenen inneren Enge zu entrinnen.
Zur eindringlichen und doch ruhig fliessenden Führung der Personen kommt in diesem St. Galler «Don Carlo» eine raffinierte Lichtszenerie. Die Bühne wird oft nur durch die sich öffnenden und oft gleich wieder schliessenden Türen ausgeleuchtet. Die Gesichter perfekt in klarer Hell-Dunkel-Halbierung gehalten, arbeitet die Lichtregie (Valerio Tiberi) zudem mit eindrücklichen Schattenspielen, die das Personal manchmal verdoppeln, spiegeln oder gedankliche Kontrapunkte anbieten.
Auch die Mailänder Fassung von Verdis «Don Carlo» (von 1884) dauert rund drei Stunden. Die vergehen im Theater St. Gallen – praktisch ohne weitere Requisiten auf der Bühne – wegen der unaufhörlich aufgebauten psychologischen Spannung rasch. Und in dieser magischen, fast Klaustrophobisches untermalenden Bühnen- und Lichtlandschaft entfalten sich Gesangssolistinnen und -solisten von ausserordentlicher Qualität und Homogenität.
Alessandra Volpe debütiert als Principessa Eboli mit virtuosem, lupenreinem Belcanto: Eine faszinierende Stimme voll Klarheit, überragender Sicherheit und fast kühler Dramatik. Alex Penda als Elisabetta begeistert mit einer darstellerischen Kraft, die aus feiner Intimität zu entstehen scheint.
Eduardo Aladrén als Don Carlo, der seine Stiefmutter liebt und wiederum von Principessa Eboli geliebt wird, ist ein grossartiger Charakterdarsteller: Eigentlich ist er immer fast wie im Taumel, im Zweifel, mit einer sehr freien, wagemutig an die Grenzen gehenden Stimmkraft und mit famoser Figurengestaltung.
Philipp II. von Spanien, ein Herrscher voller Einsamkeit, aber auch ein Knecht der Kirche, wird von Tareq Nazmi gespielt. Er gibt diesem Monarch eine moderne Prägung, mit einer manchmal fast beängstigenden Stimmgewalt. Grossartiger Höhepunkt ist seine Arie, nur begleitet vom Cello – am Boden liegend, ein gefallener Held in einem riesigen Zimmer. Nikolay Borchev gibt den Rodrigo, Marchese di Posa, ein loyaler Freund, der seine Loyalität mit dem Tode bezahlt. Seine Stimme hat weiche Eleganz, und schauspielerisch beherrscht Borchev die hintergründige Präsenz.
Die Inszenierung verzichtet fast durchgehend auf Pompöses, gestaltet Massenszenen überschaubar. Das persönliche Drama ist präsent, nicht das historische. Der neue Chefdirigent Modestas Pitrenas unterstützt das musikalisch. Wunderbar aufgefächert, transparent, nie dick ist der Klang des Sinfonieorchesters St. Gallen, so als wolle Pitrenas diese Grand Opera, die als grosses Kammerspiel inszeniert ist, fast kammermusikalisch subtil unterstützen.
Gewandt und aufmerksam wie das Orchester tragen auch die Theaterchöre (Einstudierung: Michael Vogel) zum flüssigen Ganzen bei. Von hohem Niveau sind zudem alle Sängerinnen und Sänger der kleineren Rollen.
Dieser «Don Carlo» ist intelligent durchdachtes Musiktheater. Durch die Konzentration auf die Charaktere und die Reduktion des Bühnenbildes aufs Beengende eines Zimmers scheint die Strahlkraft von Verdis Musik sich nur umso intensiver zu entfalten.