Genfs neuer «Boris Godunow» schielt bloss nach einer politisch brisanten Inszenierung

Matthias Hartmann bringt Mussorgskys «Boris Godunow» am Grand Théâtre de Genève in der Urfassung auf die Bühne – dabei ergeben sich irritierende Parallelen zu einer älteren Produktion.

Thomas Schacher, Genf
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Allmacht macht alle unglücklich: Boris Godunow (Mikhail Petrenko) wird von seinen Intrigen eingeholt – Leidtragender ist, wie üblich, das russische Volk. (Bild: GTG / Carole Parodi / PD)

Allmacht macht alle unglücklich: Boris Godunow (Mikhail Petrenko) wird von seinen Intrigen eingeholt – Leidtragender ist, wie üblich, das russische Volk. (Bild: GTG / Carole Parodi / PD)

Wer sich zur Vorbereitung auf die Genfer Neuproduktion von «Boris Godunow» die im Netz verfügbare Aufzeichnung einer Inszenierung am Mariinsky-Theater aus dem Jahr 2012 angeschaut hatte, rieb sich bei der Premiere in der Opéra des Nations die Augen. Hier wie dort gab man die Urfassung von Modest Mussorgskys Oper – in St. Petersburg inszenierte vor sechs Jahren Graham Vick; in Genf ist es nun Matthias Hartmann, der ehemalige Intendant des Zürcher Schauspielhauses von 2005 bis 2009. Der Grund für das Erstaunen: Es gibt so viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Produktionen, dass dies kein Zufall sein kann.

In der eröffnenden Klosterhofszene stellt Hartmann wie Vick das Geschehen als ein inszeniertes dar, die Wirtshausszene ist auch bei ihm in einem Bordell angesiedelt. In der Kremlszene spielt Boris’ Sohn Fjodor bei Hartmann mit Zinnsoldaten, bei Vick mit Spielzeugpanzern. Die frappierendste Parallele findet sich im Schlussbild: In beiden Inszenierungen wirft das Volk Blumen auf den eben verstorbenen Boris und begräbt den Usurpator damit gleichzeitig. Warum Hartmann sich zu solchen grenzwertigen Anlehnungen hat verführen lassen, bleibt sein Geheimnis – von Souveränität spricht dieses Vorgehen indes nicht.

Zu wenig Ambivalenz

Die Beklemmung, die von der St. Petersburger Inszenierung ausgeht, weil die Geschichte von Macht und Machtmissbrauch potenziell auch im Russland Putins spielen könnte, fehlt in der Genfer Inszenierung weitgehend. Die zeitliche Verortung der Kostüme von Malte Lübben schwankt zwischen historischen, heutigen und phantastischen Gewändern. Die Bühne von Volker Hintermeier und Daniel Wollenzin kombiniert realistisches und abstraktes Dekor. Eine Freitreppe mit rotem Teppich steht für den zaristischen Prunk, sechs bewegliche Metallgerüste lassen sich für alle möglichen Zwecke verwenden.

Dass die Inszenierung bisweilen in Harmlosigkeit abgleitet, liegt aber auch an der Titelfigur. Mikhail Petrenko gibt den Boris mit stets kultivierter Bassstimme, was jedoch die Ausschöpfung der emotionalen Extreme verhindert. Auch als Bühnencharakter zeigt der Sänger die Zerrissenheit des Zaren zu wenig. Immerhin ist er ja an die Macht gekommen, indem er den Knaben Dimitri, den rechtmässigen Erben des Zarenthrons, hat umbringen lassen. Nicht zuletzt in der Krönungsszene zeigt Boris zu wenig Ambivalenz. Wenn ihm sein Widersacher Schuiski vom Heranrücken Grigoris erzählt, der sich als Dimitri ausgibt, sieht man Boris’ Angst nicht. Und insbesondere in der Schlussszene, wenn der Mönch Pimen von einem Wunder am Grab des ermordeten Dimitri erzählt, wirkt das Abgleiten des Zaren in den Wahnsinn reichlich aufgesetzt.

Der etwas scharfe Tenor von Andreas Conrad als Schuiski passt gut zu Boris’ Gegenspieler, dennoch dürfte er ihn noch diabolischer spielen. Der Preis für die beste Leistung geht an Vitalij Kowaljow als Pimen, der dem Chronisten mit voluminösem Bass die Würde eines Sehers verleiht. Eine gute Figur macht auch Sergei Khomov als Grigori, der sich vom gelehrigen Novizen zu einem ambitionierten Machtmenschen entwickelt. Weibliche Figuren spielen in der Urfassung der Oper nur kleine Rollen: Der Fjodor von Marina Viotti ist eine Hosenrolle, die Xenia (Boris’ Tochter) von Melody Louledjian kann sich in ihrer einzigen Szene kaum profilieren; ein etwas grösseres Aktionsfeld hat die Schankwirtin von Mariana Vassileva-Chaveeva.

Fast ausschliesslich Männerrollen und keine Liebesgeschichte – dies ist in der Tat die Problematik der Urfassung von Mussorgskys «Boris Godunow». Nachdem der Komponist diese erste Fassung 1870 fertiggestellt hatte, lehnte die Kaiserliche Oper in St. Petersburg das Werk mit der Begründung ab, es fehle eine grosse Frauenrolle und es gebe zu viele Massenszenen. Daraufhin arbeitete Mussorgsky die Oper um, und diese zweite Fassung wurde schliesslich 1874 in St. Petersburg uraufgeführt. Die hauptsächliche Änderung bestand im Einschieben des sogenannten Polenaktes, mithin der Einführung der Rolle der polnischen Fürstin Marina Mnischek, die sich in den umstürzlerischen Grigori verliebt und mit ihm zusammen die Zarenkrone erobern will.

Glanzpunkte

In Genf schwört man auf die Urfassung des «Boris», die in der Vergangenheit bereits dreimal aufgeführt wurde. Sie ist ganz auf die Entwicklung der Titelfigur ausgerichtet und musikalisch stringenter, man könnte auch sagen: eindimensionaler, komponiert. Der Dirigent Paolo Arrivabeni, der das Orchestre de la Suisse Romande leitet, scheint sich in dieser Welt der Männerstimmen und der dunklen Orchesterfarben sehr wohl zu fühlen. Die Anspielungen auf die russische Volks- und Kirchenmusik in den Chören nimmt er dankbar auf; hier setzen der Chor des Grand Théâtre und der Kinderchor der Maîtrise du Conservatoire populaire effektvolle Glanzpunkte.

Den Gesangssolisten gewährt Arrivabeni viele Freiheiten, das Orchester koordiniert er bestens dazu. Den durchkomponierten musikalischen Satz, der einerseits zur realistischen Illustration neigt, andererseits durch Leitmotive formalen Zusammenhang gewinnt, gestaltet er abwechslungsreich. Wer die Oper in der normalerweise gespielten Originalfassung kennt, vermisst dennoch die musikalische Gegenwelt der Mazurken und Polonaisen, die der Polen-Akt bieten würde.