Kurtág-Uraufführung an der Scala: Alle Poesie kommt aus der Tonne

Nach Jahren des Wartens zeigt die Mailänder Scala die Uraufführung von György Kurtágs grosser Beckett-Oper «Fin de partie». Dieses «Endspiel» bleibt zwar ein «work in progress», ist aber schon jetzt ein Wurf.

Christian Wildhagen, Mailand 5 min
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Entfremdetes Leben: Hilary Summers (Nell, links), Leonardo Cortellazzi (Nagg) und Frode Olsen (Hamm) in der Uraufführungsproduktion von György Kurtágs Beckett-Oper «Fin de partie» an der Mailänder Scala. (Bild: Ruth Walz / AP)

Entfremdetes Leben: Hilary Summers (Nell, links), Leonardo Cortellazzi (Nagg) und Frode Olsen (Hamm) in der Uraufführungsproduktion von György Kurtágs Beckett-Oper «Fin de partie» an der Mailänder Scala. (Bild: Ruth Walz / AP)

Einen Moment lang stockt einem der Atem. Hier also. In diesem Haus. Heiligster Boden für alle, denen Oper mehr ist als eine x-beliebige Kunstform. Ein halbes Dutzend Verdi-Opern kam hier zur Uraufführung, Gipfelwerke wie «Otello» und «Falstaff»; dazu Bellinis «Norma», Puccinis «Butterfly», «Turandot» – und was der Herrlichkeiten mehr sind aus zweieinhalb Jahrhunderten. Wenn die Scala einem Komponisten die Bühne bereitet, darf und muss man folglich Grosses erwarten. Umso mehr, als Italiens wichtigstes Opernhaus seine Erfolgsgeschichte auch im 20. Jahrhundert fortschreiben konnte – mit Werken von Nono, Berio, Sciarrino und Stockhausen hat sie etliche repertoirefähige Stücke aus der Taufe gehoben.

Und nun also György Kurtág – nach Bartók und Ligeti ist Kurtág bereits der dritte Ungar, dem ein Platz im Pantheon der neuen Musik sicher ist. Seine Opernfassung von Samuel Becketts «Fin de partie» hatte am Donnerstag ihre «prima assoluta», und die halbe Musikwelt pilgerte nach Mailand.

Aus Geste und Silbe

Lange hat er uns warten lassen. Seit den 1950er Jahren beschäftigt sich Kurtág, inzwischen 92 Jahre alt, mit Beckett und dem absurden Theater. «Warten auf Godot» und «Endspiel», die er nach der Übersiedelung 1957 in Paris kennengelernt hat, begleiten ihn als seine «Bibeln» durch das Leben. So war es nicht verwunderlich, dass seine Wahl eben auf das «Endspiel» fiel, als ihn der damalige Zürcher Intendant Alexander Pereira um eine Oper bat. Von 2010 an hat Kurtág dann an der Vertonung gearbeitet; derweil wechselte der geplante Uraufführungsort, Pereiras jeweiligen Wirkungsstätten folgend, von Zürich über Salzburg nach Mailand. Geblieben und stetig gewachsen sind hingegen die Erwartungen – aber ebenso die Zweifel, ob Kurtág überhaupt einen Zugang zur sehr speziellen Gattung Oper finden würde.

Diese Zweifel erschienen insofern berechtigt, als Kurtág mit seiner aufs Äusserste verknappten Musiksprache zum Meister der Miniatur geworden ist. Viele seiner Stücke dauern nur wenige Minuten, manche kaum mehr als einige Sekunden – als wollte Kurtág immer aufs Neue die Maxime der Schönberg-Schule auf die Spitze treiben, wonach in einer einzigen erfüllten musikalischen Wendung ein ganzer Roman verdichtet werden kann. Genau dies ist nun tatsächlich der stilistische Ansatz von Kurtágs Beckett-Veroperung: Sie beginnt bei den kleinsten Bausteinen, bei der Geste, bei der einzelnen Silbe, und schafft aus den Urelementen des Theaters buchstäblich eine Welt.

Das ist durchaus gewöhnungsbedürftig. Denn Kurtágs gleichsam «pointilistisches» Komponieren ist nicht nur extrem auf den Punkt gebracht – es kommt auch kaum vom Fleck. Es geht nämlich einher mit dem weitgehenden Verzicht auf dramatische Entwicklungen und grössere Zusammenhänge, sieht man einmal von dem sogar mit blossem Ohr wiederzuerkennenden Motivgeflecht ab, das die gesamte Partitur durchzieht. Doch dieser lakonische Accompagnato-Stil, der gleichermassen an Debussys «Pelléas et Mélisande» wie an Messiaens «Saint François d’Assise» erinnert, entpuppt sich als kongeniale Entsprechung zum scheinbar formlosen, sinnentleerten Sprechakt bei Beckett. Auch er wird gleichwohl durch Assonanzen und leitmotivische Schlüsselwörter («fini, c’est fini») strukturiert.

Kurtágs konzise Musik erweitert Becketts Text in zweifacher Weise: Zum einen bringt sie die Sprache wahrhaft zum Klingen, und zwar in durchweg traditioneller, bisweilen ins Ariose ausgreifender Singweise, dabei aussergewöhnlich subtil dem Sprachfall des französischen Originaltextes nachlauschend. Zum anderen erfasst die Musik auch das szenische Geschehen, also die in regelrechte Pantomimen ausufernden Regievorgaben Becketts, die das gross besetzte Orchester in geradezu filmisch-illustrative Klanggesten übersetzt, freilich ohne sie je ins Comichafte zu überzeichnen. Markus Stenz und das Scala-Orchester erfüllen diese Doppelfunktion als musikalische Choreografen und als Kommentatoren des Geschehens nicht mit der nadelspitzen Präzision mancher Neue-Musik-Ensembles, aber mit erfreulicher Sicherheit und viel Wärme im Ton.

Die Poesie des «Anderen»

Solche Wärme kann man gut gebrauchen, denn durchweg ernst und von postapokalyptischer Traurigkeit überwölbt erscheint dieses Endzeitdrama, in dem vier Personen unentwegt Schluss machen, ins Nirgendwo fortgehen oder sich anderweitig abschaffen wollen. Und ebendieses Letzte dann doch nie zuwege bringen. Von der Option, Becketts Schauspiel als Farce oder gar als negative Komödie im Sinne Dürrenmatts zu lesen, macht Kurtág nur in Ansätzen Gebrauch; die dezidiert werkdienliche Erstinszenierung von Pierre Audi in der Ausstattung Christof Hetzers gar nicht. Stattdessen beschwört das Werk in seinen intensivsten Momenten eine Poesie des «Anderen»: Visionen lichten Gelingens, eines Gegenentwurfs zum eigenen verkorksten Leben, genauso sinnlos zwar und flüchtig, aber unendlich human und, ja, auch unerhört schön.

Kurtág verbindet diese Visionen vor allem mit der Gestalt der Nell, der Mutter des ewig grantelnden Hamm, dem Frode Olsen die Wucht eines alternden Wotan verleiht. Nell, von der Mezzosopranistin Hilary Summers mit berührender Intensität gesungen, haust neben Hamms Vater Nagg (der Buffo Leonardo Cortellazzi mit einer Mime-Rolle) in einer Mülltonne, seit ein Fahrradunfall beide den Unterleib gekostet hat. Sie aber lebt als Einzige nicht für den banalen Augenblick, sondern gleichermassen im Gestern wie im utopischen Morgen.

Kurtág hat hier offenkundig eine autobiografische Verneigung vor seiner Frau und künstlerischen Partnerin Márta Kurtág geschaffen und wertet die Figur noch weiter auf, indem er ihr einen traumentrückten Prolog auf das Beckett-Gedicht «Roundelay» zugesteht. Als starkes Gegenbild zur folgenden Weltnegation steht dieser nun am Beginn der derzeit vierzehn Nummern der Partitur, die bis dato fertiggestellt sind.

«Opera in progress»

Ob es wirklich nottut, diese Szenenfolge im Sinne einer «opera in progress» so lange zu ergänzen, bis ein Grossteil des Textes vertont ist (wie Kurtág angekündigt hat), steht dahin. Mit 125 Minuten Spieldauer erreicht der Einakter bereits eine mehr als ausreichende Länge. Eine Unterteilung, wie sie leider in Mailand jetzt schon durch unnötige Umbauvorhänge erfolgt, könnte die so dichte wie fragile Atmosphäre des Stückes zerstören.

Andererseits sind hier die Voraussetzungen auch für ein mehraktiges grosses Stück so stimmig wie nur bei wenigen zeitgenössischen Bühnenwerken: Kurtág hat einen ganz eigenen Opernstil gefunden, der tief in seinem Schaffen wurzelt; die Musik fügt dem Text wirklich etwas hinzu; und nicht zuletzt gewinnen die Figuren Tiefe und echtes Leben – obwohl sie eigentlich die ganze Zeit sterben wollen.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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