Stockhausen-Erstaufführung in Paris: Eva mit den Scherenhänden

Die Opéra-Comique startet furios in die französische Erstaufführung des «Licht»-Zyklus von Karlheinz Stockhausen. Nach dem «Donnerstag» in der Regie von Benjamin Lazar sollen bis 2024 alle übrigen Wochentage dieses gigantischen Gesamtkunstwerks folgen.

Eleonore Büning, Paris
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Im besten Fall kommt Erleuchtung aus den Tönen: Szene aus der Pariser Aufführung von Karlheinz Stockhausens «Donnerstag aus ‹Licht›». (Bild: Vincent Pontet / Opéra-Comique)

Im besten Fall kommt Erleuchtung aus den Tönen: Szene aus der Pariser Aufführung von Karlheinz Stockhausens «Donnerstag aus ‹Licht›». (Bild: Vincent Pontet / Opéra-Comique)

Musik kennt keine Grenzen, wohl wahr. Gerade in der zeitgenössischen Musik, gleichviel ob in Pop, Rock, Jazz, bei der Improvisation, in Elektronik oder der sogenannten Klassik: Die Stilmittel haben sich verflüssigt, die Nationalfarben sind verblasst. Und doch bleibt selbst im Zeitalter der Globalisierung Deutschland eine verspätete Nation. Die Briten und die Schweizer waren schneller. Die Italiener waren sowieso die Ersten. Und jetzt: die Franzosen. Bisher nämlich hat sich noch keines der immerhin über achtzig deutschen Opernhäuser an «Donnerstag aus ‹Licht›» von Karlheinz Stockhausen herangewagt. Dabei ist es inzwischen 37 Jahre her, dass Stockhausen in Mailand mit diesem ersten Teilstück seiner hybriden «Licht»-Heptalogie Furore gemacht hat.

Familienaufstellung

Der Donnerstag ist der Tag des Jupiter, des grossen Donnerers, der blaue Tag. Denn im All, im Äther beginnt diese Schöpfungswoche, die sich weiten sollte zum grössten Gesamtkunstwerk des 20. Jahrhunderts, das alle möglichen Musiksprachen und Stilmittel aufbietet, die Stockhausen seinerzeit zu Gebote standen. Zuletzt hatte die Regisseurin Lydia Steier 2016 eine so märchenhaft verspielte, phantastisch ausufernde Darbietung von «Donnerstag aus ‹Licht›» in Basel auf die Bühne gestellt, dass sie damit die Stockhausen-Erbinnen aus Kürten alarmierte, die das Œuvre des Gurus seit dessen Rückkehr auf den Planeten Sirius so eifersüchtig bewachen wie Fafner den Nibelungenhort. Mit der französischen Erstaufführung in einer Inszenierung von Benjamin Lazar an der Opéra-Comique in Paris sollten die beiden Hüterinnen jetzt aber zufrieden sein.

Hier kann man die Musik mit den Augen hören. Lazar entwickelt alle szenischen Abläufe, Gesten, Bilder und Choreografien quasi «werktreu», ja, geradezu treuherzig, direkt aus der instrumentalen Aktion. Das grosse Spiel fängt klein und spiessig an, autobiografisch, in einer Familienaufstellung à la Stockhausen: Vater, Mutter, Kind. Michael, der Drachentöter und wehrhafte Erzengel (der Tenor Damien Bigourdan), hat seinen Planeten Sirius verlassen und sich auf die Erde begeben, um Menschensohn zu werden.

Seine Mutter heisst Eva (die Sopranistin Léa Trommenschlager), sie ist mild, liebenswürdig, psychisch labil und landet, wie es auch Stockhausens Mutter widerfuhr, in einer Irrenanstalt. Gertrud Stockhausen wurde Opfer des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms. Auch Mama Eva wird gequält und ermordet, aber sie vervielfältigt sich zugleich, wie nach und nach alle drei Hauptfiguren, und bleibt, als graziöse Tänzerin (Suzanne Meyer) und als Bassetthornspielerin (Iris Zerdoud), auch im zweiten und dritten Akt eine starke, aktive Kraft.

Im ersten Akt indes, «Michaels Jugend», der noch mit einer familiären Besetzung haushält, nur Bläser, Klavier, Orgel und Tonband, bringt Eva ihrem Sohn zunächst das Singen, Tanzen und Lieben bei. Auch der strenge, kaltherzige Vater Luzifer (der Bass Damien Pass) ist dreifach unterwegs, zugleich auch als Tänzer (Jamil Attar) und als Instrumentalist (Posaune). Auch er ist gestört: Laufend predigt Luzifer neue Regeln, zählt zwanghaft, wie Graf Zahl aus der «Muppetshow» von eins bis dreizehn, und lehrt den Sohn das Handwerk des Tötens auf der Jagd und im Krieg. Und es dauert nicht lange, dann stellt sich heraus, dass dieser Papa Luzifer des Erzengels eigentlicher Gegenspieler sein wird: Er ist das böse Prinzip.

Die Bühne bleibt offen, kahl bis zu den Brandmauern. Es gibt keinen Graben, keinen Vorhang. Der Übergang in den Zuschauerraum erscheint egalisiert, dergestalt, dass das ganze Haus dynamisiert wird und mitklingt, das Publikum aber sich aus seinem chronischen Voyeur-Schicksal erlöst sieht. Zumindest hat man den Eindruck, dass dem so sei, zumal bei den Zuspielungen, die auf dem Surround-Weg über die Ränge wandern – erst recht im festlichen dritten Akt, Michaels Apotheose und «Heimkehr», wenn sich gruppenweise Jubelchöre im Raum postieren, derweil Störenfried Luzifer zornbebend im Parkett herumtobt.

Die Kusine des Waldvögleins

Im Übrigen sind sowieso alle Musiker mehr oder weniger eingebunden in die Handlung, um nicht zu sagen: Sie sind die Handlung. Das gilt nicht nur für die drei Alter Egos der Unheiligen Familie, allen voran der famose Michaels-Trompeter Henri Deléger, der den mit Abstand grössten und schwierigsten Part zu spielen hat und mit unfehlbarer Virtuosität glänzt.

Auch die Streicher und Holzbläser vom Ensemble Le Balcon, das sich zum zweiten Akt, zu «Michaels Reise um die Welt», in einem grossen Kreis formiert, brechen einzeln auf zu solistischen Abenteuern. Vom einsamen Kontrabassisten bis zum Klarinettenduo, jeder Einzelne ist brillant auf seinem Instrument, jeder ein Star für sich. Und der junge, enthusiastische Dirigent Maxime Pascal, Begründer und Leiter von Le Balcon, sorgt so vorbildlich für Transparenz, aber durchaus auch für Schönklang und ein Maximum an Ausdruck, dass die Komplexität dieser vielschichtigen Partitur wie ein Kinderspiel erscheint, leicht zu hören, mit Wonne zu verfolgen.

Lazar und sein Regieteam ordnen sich diesem Flow perfekt unter. Sie arbeiten nur mit Licht, etlichen verschiebbaren Podesten sowie, vor allem im ersten, an Simultanszenen reichen Akt, mit drei sparsam bespielten Videotafeln. Lazars besonderes Markenzeichen ist eine Fülle von Assoziationen, teils witzig, teils etwas «sophisticated», mit denen er die Phantasie des Publikums an der langen Leine spazieren führt. Da erinnert, zum Beispiel, die altmodisch geschwungene Form der Badewanne, die von Anfang an seitlich am Proszenium steht, an das berühmte Gemälde «Der Tod des Marat» von Jacques-Louis David aus dem Revolutionsjahr 1793. Man ahnt es, lange bevor es so weit ist: Hier wird demnächst ein Meuchelmord geschehen.

Oder: Als nach einer entzückend graziösen Tanz-Eva (Suzanne Meyer) endlich auch noch die schöne «Mond-Eva» (Iris Zerdoud) eintrifft, Bassetthornistin, Naturkind und Alraune, da wachsen ihr nicht nur papagenaartig Flaumfedern und allerhand Grünzeugs aus Haar und Kleid, sie ist auch offenkundig eine Kusine des Waldvögleins aus Richard Wagners «Siegfried», durchaus sexuell interessiert. Dazu hat sie raffiniert lange Fasanenfederfinger, die sich bei ihrem lüsternen Bassetthornspiel kreuzen und verkeilen, ähnlich wie die des unschuldigen Androiden Johnny Depp in Tim Burtons Film «Edward mit den Scherenhänden».

Schliesslich: Wie der Trompeter-Michael den Posaunen-Luzifer im Duell nach und nach in Grund und Boden spielt, da hält er am Ende sein Instrument wie der Erzengel auf den Gemälden von Raffael oder Giordano, in klassischer Siegerpose, und für einen kleinen Augenblick glaubt man plötzlich, dem Posaunisten, der sich zu seinen Füssen windet, wachse ein Lindwurmschwanz.

Gesamtzyklus bis 2024

Bereits das Vorspiel, «Michaels Gruss» mit den ersten Tönen der Superformel, hatte, wie es Stockhausen vorschreibt, vor Beginn der Vorstellung die Treppenfoyers des Opernhauses belebt. Als alles vorbei und Michael in den Himmel zurückgekehrt ist, tönt seine Abschiedsmusik draussen von Balkonen herab auf die Place Boieldieu.

Diese französische Erstaufführung von «Donnerstag aus ‹Licht›» ist, wie der Dirigent bescheiden beiläufig offenbarte, zugleich Auftakt zur allerersten «Licht»-Gesamtaufführung überhaupt: Jahr um Jahr will Pascal, ab sofort, einen weiteren «Tag» realisieren. Ob am Ende, 2024, der neunundzwanzigstündige Zyklus an einem Stück gezeigt werden kann, steht noch in den Sternen. 2019 jedenfalls, so viel steht fest, gibt es «Sonntag aus ‹Licht›» in der Pariser Philharmonie.