„Jenufa“ überzeugt am Staatstheater Wiesbaden

Wo ist das Kind geblieben? Dalia Schaechter (links) als Küsterin und Sabina Cvilak als Jenufa im Staatstheater Wiesbaden. Foto: Monika & Karl Forster
© Monika & Karl Forster

Generalmusikdirektor Patrick Lange und Regisseur Ingo Kerkhof gelingt in Gisbert Jäkels Bühnenbild eine höchst intensive Deutung von Leos Janáceks Oper.

Anzeige

WIESBADEN. Manche nehmen Säure, andere das Messer: Wenn Männer nicht bekommen, was sie wollen, beschädigen sie gerne das „Objekt“ ihrer Begierde. Laca Klemen, hoffnungslos vernarrt in Jenufa und eifersüchtig auf seinen attraktiveren Cousin Steva Buryja, schneidet im ersten Akt von Janáceks Oper in das Gesicht des schönen Mädchens, das in der Moralklemme steckt. Sie ist schwanger von Steva, aber dieser dauerbesoffene Bruder Leichtfuß macht keine Anstalten, der Beziehung mit einer Hochzeit einen ordentlichen Rahmen zu geben. Jenufas Stiefmutter, die Küsterin, wird im zweiten Akt das heimlich geborene Kind ertränken, um ein Leben in Schande zu verhindern.

Im Operntext, den Janácek nach einem Drama von Gabriela Preissová verfasst hat, findet Jenufa am Ende zu einer höheren oder größeren, vor allem aber gottgefälligen Liebe ausgerechnet zu jenem Laca, der sie einst verletzt hat. Hinter solche Läuterung wird heute mit guten Gründen gerne ein dickes Fragezeichen gesetzt, und auch in Wiesbaden verweigert der Regisseur Ingo Kerkhof in seiner fesselnden Inszenierung der Dorfgeschichte die moralische Apotheose mit finaler Vergebung. Jenufa ist bei ihm am Ende buchstäblich am Boden zerstört, in einem Bild trostloser Einsamkeit statt jener Zweisamkeit, die das Textbuch suggeriert.

Die Geschichte als Leidensgeschichte

Das lässt Wiesbadens Premierenpublikum nicht kalt: Sänger, Generalmusikdirektor Patrick Lange und das Regieteam werden anhaltend gefeiert. Es ist nach „Katja Kabanowa“ die zweite überzeugende Janácek-Inszenierung der Laufenberg-Intendanz, und wieder hat die Sopranistin Sabina Cvilak in der Titelpartie erheblichen Anteil am Erfolg. Vokale Wärme und Ausdruckskraft bewegen sich auf der Höhe ihrer szenischen Präsenz. Glücksfälle sängerdarstellerischer Intensität sind aber auch Daniel Brenna, der als Laca für den erkrankten Paul McNamara eingesprungen ist, sowie die großartige Dalia Schaechter als Küsterin: Mit dem Timbre gelebten Lebens erzählt die Mezzosopranistin packend die Geschichte dieser Figur auch als Leidensgeschichte.

Anzeige

Männergewalt hat Tradition in ihrer Familie und im Dorf, dessen düstere Ländlichkeit der Bühnenbildner Gisbert Jäkel in hohen Scheunentoren andeutet. Die Innenansichten der Bauernstuben weiten sich im Kulminationspunkt der Oper, dem Kindsmord, zum Panorama einer eiskalten Winterwelt, in die Jenufas Stiefmutter das Neugeborene hinausträgt.

Anders als der Regisseur Matthew Wild, der „Katja Kabanowa“ in Wiesbaden in die postsowjetische Tristesse der Putin-Ära versetzt hatte, bleibt Ingo Kerkhof mit seiner Interpretation in der Zeit um 1900, ohne dem Text kreuzbrav zu folgen. Die alte Buryia (Anna Maria Dur) schält anfangs keine Kartoffeln, sondern klebt Fotos ins Familienalbum ein. Für dieses hatte die Familie bereits, bevor das Orchester einsetzt, in wechselnden Konstellationen posiert, mit einer traurigen Witwe im Zentrum und zur Grammophon-Begleitung mit weinender Geige.

Spuren frischen Grüns in einer bedrückenden Welt

Die Foto-Situation exponiert eine strenge, zu Sepiatönen und zum Schwarzweißen tendierende Welt, die an die bedrückende Kindergeschichte von Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ denken lässt. Nur Jenufas Rosmarin-Töpfchen und die grünen Kränze feierlustiger Dorfbewohner bringen frischere Farbe ins Spiel, das auch in den bewegten Chorszenen (Einstudierung: Albert Horne) von hoher Intensität ist.

Diese Intensität ist nicht nur einem starken Sängerensemble zu verdanken, in dem Aaron Cawley den untreuen Schönling Steva gibt. Dass im Fall Janáceks noch weniger als bei seinen Kollegen vom Opernfach zwischen szenischer und musikalischer Realisierung getrennt werden kann, erlebt man im Staatstheater unter Patrick Langes Stabführung exemplarisch. Das der Sprache abgelauschte Melos dieses Komponisten gewinnt im Staatsorchestergraben plastische Gestalt, reflektiert, stärkt und trägt das Bühnengeschehen im ständigen Wechselspiel.

Anzeige

Dieses dichte Gewebe aus musikalischer und szenischer Gestik ist vor allem Ausdruck einer tiefen, mitleidenden, in jedem Takt spürbaren Menschlichkeit, der ein großes Publikum zu wünschen ist. Viele leere Plätze schon in der Premiere lassen jedoch befürchten, dass es Janácek in Wiesbaden wieder schwer haben wird.