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Besuch der grauen Dame

Die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck feiert Premiere im Stadttheater Bielefeld

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Vor dem großen Dampfkessel: Katja Starke verkörpert die Hexe mit wahrer Lust am Rumschmuddeln und landet später in ihrem eigenen Kessel. Foto: Sarah Jonek | © Sarah Jonek

Vor dem großen Dampfkessel: Katja Starke verkörpert die Hexe mit wahrer Lust am Rumschmuddeln und landet später in ihrem eigenen Kessel. Foto: Sarah Jonek | © Sarah Jonek

03.12.2018 | 03.12.2018, 07:00

Bielefeld. Die Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck gehört zur Vorweihnachtszeit wie Punsch und Kekse. Das wohlige Gruseln angesichts des Bösen, das in Form einer warznasigen Hexe kurz in die reale Welt hineinlugt, versöhnt ungemein mit dem Alltag, der vielleicht nicht perfekt aber doch zumindest hexenfrei ist.

Mit dieser Wahrnehmung spielt die durch und durch gelungene Inszenierung von Jan Eßlinger, die am Samstag im Stadttheater Bielefeld Premiere feierte. Eßlinger befreit das Märchen von der Betulichkeit und übersetzt es behutsam in die Jetzt-Zeit. Über je mehr Weltwissen die Zuschauer verfügen, desto mehr Verständnis-Ebenen eröffnen sich ihnen, ohne dass die kindliche Sichtweise darüber vernachlässigt wird.

Dem Spiel mit den Ängsten kann man sich nicht entziehen

In der Ouvertüre, traumschön gezaubert von den Bielefelder Philharmonikern unter der Leitung von Alexander Kalajdzic, herrscht noch die heile Welt: Das Hornquartett zu Beginn, wohligwarmer Streicherklang, liebevoll ausgespielte Schweller, kindliche Fröhlichkeit in den Holzbläsern und gerade so viel üppiges Blech und Paukenwirbel, wie für eine Gänsehaut notwendig ist – die Philharmoniker musizieren mit hinreißender Leidenschaft.

Doch dann öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf die trostlose Welt von Hänsel und Gretel (starkes Bühnenbild mit doppeltem Boden von Benita Roth). Es ist ein duster-schmuddeliger Keller, in dem die beiden Kinder aufwachsen. Nienke Otten und Hasti Molavian sind als Gretel (Otten) und Hänsel eine Traumbesetzung. Sie bringen den Zuschauern die Geschwister so nah, dass man gar nicht anders kann, als ihnen vorbehaltlos in die Geschichte zu folgen.

Als Mutter überzeugt Sarah Kuffner

Der beklemmenden Öde treten sie mit kindlicher Entschlossenheit entgegen, „Brüderlein komm tanz mit mir“ artet in eine Geschwisterklopperei aus, bei der „mit den Füßchen tipp tipp tipp“ mit beherzten Tritten gegen die brüderlichen Beine umgesetzt wird. Als Mutter überzeugt Sarah Kuffner, deren kraftvolle Stimme im Gegensatz zu ihren verhärmten Zügen und ihrer völligen Erschöpfung steht. Den Vater verkörpert Frank Dolphin Wong, der nicht nur großartig singt, sondern seine Rolle mit so unberechenbaren Stimmungswechseln und subtil untergründiger Aggression auslegt, dass es beängstigend ist.

Hänsel und Gretel werden aus der Wohnung geschickt und fliehen, zunächst nur in den Nachbarkeller, schließlich auf die Straße. Hier beginnt ein wahrer Krimi. Eine graugekleidete Dame (Ingen Franke) taucht auf, bietet Bonbons an. Ist da nicht eine Warze auf der Nase? Ist dies die Hexe? Können die Kinder ihr trauen? Die Philharmoniker spielen einen düsteren Soundtrack, aufgeregt, hektisch, ohne jede Betulichkeit. Die Geschwister verlaufen sich, werden panisch. Meisterhaft ist hier das Licht mit einbezogen (Johann Kaiser): Die Kinder werden von der Dunkelheit verschluckt und tauchen an anderer Stelle aus dem Nichts wieder auf. Es ist ein Spiel mit den Ängsten, dem man sich nicht entziehen kann.

Sie träumen den Traum von einer heilen und glücklichen Familie

Die Szene zwischen den Auftritten des Sandmännchens (Ekaterina Aleksandrova ) und des Taumännchens (Dorine Mortelmans) ist normalerweise ein Moment höchsten Friedens. Hier treten beide im Kostüm der grauen Dame auf – höchst irritierend. Die Geschwister schlafen ein und träumen, doch es sind nicht 14 Englein, sondern Mama, Papa, Oma und Kinder, die hier auftreten. Hänsel und Gretel träumen den Traum von einer heilen, glücklichen Familie, zauberhaft untermalt von den Philharmonikern. Es ist dieser Moment, der den Zuschauer mitten in die schutzlos geöffnete Seele trifft, dass es einem das Herz brechen möchte.

Es folgt der Sprung in die surreale Märchenwelt. Katja Starke verkörpert die Hexe mit wahrer Lust am Rumschmuddeln. Ungeniert pult sie sich zwischen den Zähnen, lüstern stellt sie Hänsel nach, mit herrlich entnervten Grimassen treibt sie Gretel an. Die Geschwister stellen sich dem fantastischen Abenteuer, bis die Hexe schließlich im eigenen Dampfkessel landet und die anderen gefangenen Kinder (prima gesungen und gespielt von den JunOs) frei sind. In die ausgelassene Freude brechen Vater und Mutter ein, die gekommen sind um Hänsel und Gretel nach Hause zu holen. Aber wer eine Hexe besiegt, der nimmt es auch mit Mama und Papa auf – oder?

Weitere Vorstellungen am 4., 7., 23. und 25. Dezember. Karten bei der NW unter Tel. 555-444. Infos und weitere Termine unter www.theater-bielefeld.de.