Kahle graue Wände, graue Kostüme und fahles Licht – wer von der jüngsten Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper einen detailverliebten Historienschinken erwartet hatte, wurde wohl mindestens genauso enttäuscht, wie jene, die sich etwas mehr Aktualitätsbezug erhofft hatten. Stattdessen inszeniert Amélie Niermeyer Giuseppe Verdis Otello als prunkloses Psychodrama.

Mit schlichten Szenen, einer reduzierten Personenführung, einer allzu karge Bühne und einer Handvoll von Requisiten bleibt nur wenig übrig, um beim kritischen Münchner Publikum anzuecken. Fast möchte man ihr Absicht unterstellen. Aber vielleicht war es auch nur ein geschickter Schachzug, um viel Raum für die Starbesetzung dieser Aufführung zu lassen.

Jonas Kaufmann, Anja Harteros, Kirill Petrenko – die Liste der Namen ist so lang, wie illuster. Wer hätte gedacht, dass der heimliche Star dieses Abends ein ganz anderer sein sollte. Gerald Finley brillierte mit erlesenen Nuancen zwischen strotzender Kraft und lyrischer Feinheit als Jago in jeder Szene.  „Temete, signor, la gelosia!“ klang erstaunlich hell, leicht und ausdrucksvoll detailreich. Mehr noch: Der kanadische Bariton setzte auch schauspielerisch die größten Akzente und vermittelte glaubhaft einen intellektuellen Bösewicht à la Mephisto. Manchmal fehlte jedoch etwas die diabolische Intriganz in seine Stimme, was insbesondere beim „Credo“ ins Gewicht fiel.

Anja Harteros setzte als Desdemona ebenfalls mehr als reichlich Glanzlichter im Einheitsgrau der Bühne. Besonders im vierten Akt beeindruckte sie mit sinnlicher Weiblichkeit und aristokratischer Eleganz. Manchmal waren in den Höhen ihres Soprans ein paar Schärfen zu hören, und das jugendliche Idyll des Weiden-Lieds mochte nicht ganz zur edlen Reife Ihres Soprans passen. Trotzdem, Harteros führte die Idee Niermeyer, sie zur Schlüsselfigur des Stückes zu machen, mit viel lyrischer Intelligenz zu Ende.

Jonas Kaufmann hatte es hingegen nicht leicht. Das Maß, mit dem er gemessen wird, ist scheinbar immer drei Nummern größer, als das der anderen. Fairerweise auch die Eintrittspreise. Trotzdem: Otello wird wohl nicht seine Paraderolle werden, dafür ist sie wohl psychologisch wie musikalisch zu vielschichtig für den Bayern, um sie nur mit seiner intellektuellen Kontrolle zu füllen.

In den stillen, hoch-emotionalen Passagen des dritten Akts glänzte Kaufmann mit einem gehauchten, zerbrechlich-zarten „Dio mi potevi scagliar“. Jedes Wort wollte man ihm von den Lippen zerren, die innere Pein des verzweifelnden Ehemanns wurde greif- und hörbar. Der siegreiche General, der „Esultate!“ schmettert, dem konnte Kaufmann allerdings weder militärische Präsenz noch autoritäres Volumen verleihen. Dem manischen Ehemann fehlte gleichermaßen die ungezähmte stimmliche Wut. Da half es auch nur wenig im finalen „Niun mi tema“ ein paar blutröchelnde Huster einzubauen.

Kirill Petrenko peitschte unterdessen in fulminanten Crescendi das Bayerische Staatsorchester mit hör- und sichtbarer Leidenschaft an. Mit fein ausdifferenzierten Nuancen folgte er den Sängern aufs Wort, niemals übertönend – nur dort wo er muss. Bestechend war auch die filigrane Zusammenarbeit mit dem das Stück eröffnenden Chor (Leitung Jörn Hinnerk Andresen), den man selten so präzise und vielschichtig die Ankunft der Schiffe dokumentieren hörte. Insgesamt aber blieb sein Dirigat eher fahl, nüchtern und analytisch, nicht emotional überbordend und warm. Keine schlechte Entscheidung in Anbetracht von Niermeyers Visions, aber gleichzeitig entstand auch keine bahnbrechende neue Lesart von Verdis vorletztem Stück.

Insgesamt bleibt dieser Otello an der Bayerischen Staatsoper ein Artefakt. Die Schlacht von Lepanto oder die letzten Jahre der Venezianischen Republik, wem sagt das heutzutage noch etwas? Niermeyer Entscheidung, jegliche militärischen Andeutung wegzulassen, und auch Otello nicht als „dicklippigen Mohr“ auftreten zu lassen, führen oberflächlich nur das fort, was Boito und Verdi damals begonnen hatten. Übrig bleibt das Liebesdrama einer einsamen Großbürgerin und einem frustrierten, weißen Militärbeamten, der unter ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen leidet.

Nur leider wird damit dem italienischen Operndrama das letzte Fundament entzogen. Wer ist eigentlich dieser Otello? Warum verfällt Desdemona einem solchen Normalo? Wieso verteidigt Desdemona Cassio derartig und warum heckt Jago überhaupt diesen pathologischen Plan aus? Die Handlung zerbröckelt und übrig bleiben psychologische Versatzstücke ohne echten Zusammenhang.

Niermeyers Otello wirkt am Ende fast belanglos entrückt – besonders wenn der Titelheld „Sangue, Sangue, Sangue!“ skandiert. Die blutige Rachsucht eines düpierten Generals lässt sich nicht im kalten Einheitsgrau der leeren Altbauwohnung von Christian Schmidt (Bühne) verorten.

Es war wohl der Versuch, das Stück auf die Beziehungsebene und auf das grausame Schicksaal der tragischen Frauenrolle zu fokussieren. Das gelingt zwar, überzeugt aber nicht. Gleichwohl: Das graue Bühnenbild, das eher nüchterne Dirigat, und die zurückgenommene emotionale Intensität der Sänger passen allesamt perfekt zu Niermeyers Konzept. Wer eine puristische Interpretation von Verdis Otello mit einer tollen Besetzung sucht, ist an der Bayerischen Staatsoper sicher gut aufgehoben.

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