Inaugurazione an der Scala: Der Barbar lädt zum Bankett

Zwei Pferde auf der Bühne, multimediale Effekte, viele Theaterleichen – die Neuinszenierung von Giuseppe Verdis Frühwerk «Attila» gerät zu einem Spektakel. Der Chefdirigent Riccardo Chailly unterstreicht die Attraktivität des Werkes aber auch musikalisch.

Thomas Schacher, Mailand
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Keine Liebe in Zeiten des Krieges: Odabella (Saioa Hernández) muss in der düsteren Welt überleben, die das Treiben schiesswütiger Männer wie Attila (Ildar Abdrazakov, im Film) verwüstet hat. (Bild: Teatro alla Scala / AP)

Keine Liebe in Zeiten des Krieges: Odabella (Saioa Hernández) muss in der düsteren Welt überleben, die das Treiben schiesswütiger Männer wie Attila (Ildar Abdrazakov, im Film) verwüstet hat. (Bild: Teatro alla Scala / AP)

Die Inaugurazione, die traditionelle Premiere zur Eröffnung der neuen Opernsaison in Mailand, ist der spektakulärste Anlass am Teatro alla Scala. Dabei liegt das Spektakuläre keineswegs bloss in der Aufführung allein; fast ebenso bedeutend sind die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen – versammeln sich an diesem Abend doch die Eliten aus Politik, Wirtschaft, Hochfinanz und Kultur zum glamourösen Stelldichein. Eintrittspreise von bis zu 2500 Euro sorgen für eine – durchaus fragwürdige – Exklusivität, und ein riesiges Polizeiaufgebot verhindert Jahr um Jahr aufs Neue, dass Störenfriede den Weg ins Mailänder Opernhaus finden. Diese demonstrieren derweil, wie an jedem 7. Dezember, auf der gegenüberliegenden Seite des Vorplatzes gegen «Kultur für die Reichen».

Auch drinnen im Saal ereignet sich vor der Aufführung von Giuseppe Verdis «Attila» ein Spektakel der besonderen Art: Auf der Ehrentribüne erscheint Staatspräsident Sergio Mattarella höchstpersönlich – er bekommt in diesem für Italien politisch besonders schwierigen Jahr geradezu demonstrativen Applaus. Und wenn dann das ganze Publikum stehend der von Riccardo Chailly schmissig dirigierten Landeshymne «Fratelli d’Italia» lauscht, verleiht das der Aufführung schon vor deren Beginn den Charakter eines Staatsakts.

Vertauschte Rollen

Dies passt überraschend gut zur folgenden Oper. Denn Verdi hat nicht nur mit «Attila», sondern überhaupt in seinen Opern der 1840er Jahre Stoffe ausgewählt, die im Geist des Risorgimento auf die Befreiung und Einigung Italiens abzielten. Denken wir nur an «Nabucco», «I Lombardi alla prima crociata» oder «Giovanna d’Arco»; Letztere hatte Chailly zur Eröffnung der Saison 2015/16 in einer Neuproduktion mit Anna Netrebko herausgebracht.

«Attila» spielt im vierten Jahrhundert und erzählt, basierend auf historischen Tatsachen, die kriegerische Auseinandersetzung zwischen dem Hunnenkönig und dem weströmischen Feldherrn Aëtius, der in der Oper Ezio heisst. Selbstredend handelt es sich dabei im Sinne Verdis um einen Kampf der Bösen gegen die Guten, die schliesslich folgerichtig als Sieger hervorgehen. Das Liebespaar von Odabella und Foresto aus Venetien ist eine Zutat der Librettisten. Dass Odabella, deren Vater von Attila getötet wurde, am Schluss den Hunnenkönig mit dem Dolch ersticht, passt auf der individuellen Ebene ebenfalls in dieses etwas schlichte Freund-Feind-Schema.

Die Charaktere der vier Hauptfiguren fügen sich hingegen nur beschränkt in dieses Schema. Insbesondere der Attila von Ildar Abdrazakov verkörpert alles andere als einen seelenlosen Tyrannen. Wenn er in der ersten Szene hoch zu Ross in Generalsuniform heranrückt, ist er noch ein Bösewicht wie im Film. Doch im Verlauf des Geschehens nimmt der Barbar immer sympathischere Züge an. Und beim Bankett, das er nach dem Waffenstillstand für Ezio und die Römer gibt, zeigt er sich als Mann von Kultur. Zudem verströmt seine Bassstimme eine Wärme, die zu Herzen geht. Auf der anderen Seite steckt der Ezio von George Petean, der eigentlich die positive Identifikationsfigur sein müsste, die ganze Zeit in einer braunen Militäruniform, was durchaus Assoziationen mit Diktatoren des Zweiten Weltkriegs entstehen lässt. Überdies trägt sein Bariton eine sehr dunkle, manchmal bedrohlich wirkende Färbung.

Himmlische Drohungen

Auch der Foresto von Fabio Sartori, der Liebhaber, eignet sich nicht unbedingt als Sympathieträger. Dies liegt nicht nur an seiner fülligen Erscheinung, sondern auch an seinem in der Höhe sehr scharf klingenden Tenor. Starke Eindrücke hinterlässt dagegen die Odabella von Saioa Hernández bei ihrem Scala-Debüt. Mit ihrem dramatischen Koloratursopran bewältigt sie den mörderischen Gesangspart hervorragend und zeigt ihre Figur als eine Frau aus Fleisch und Blut.

Hoch zu Ross wie einst in der guten Grand Opéra: Attila (Ildar Abdrazakov) mit seinen wilden Mannen (Chor des Teatro alla Scala). (Bild: Teatro alla Scala)

Hoch zu Ross wie einst in der guten Grand Opéra: Attila (Ildar Abdrazakov) mit seinen wilden Mannen (Chor des Teatro alla Scala). (Bild: Teatro alla Scala)

Spektakulär ist die Inszenierung von Davide Livermore. Unterstützt vom eventerprobten Studio Giò Forma, dem Kostümbildner Gianluca Falaschi, dem Lichtgestalter Antonio Castro sowie durch Videos der Agentur D-Wok bringt er das Geschehen einerseits sehr realitätsnah zur Geltung, hüllt es aber andererseits ein in eine phantastische Bühnenwelt, die direkt aus Hollywood zu stammen scheint. Trümmer, zerstörte Häuser, ins Leere laufende Brücken – ja, auch das! – und Kirchenruinen versetzen das Publikum in eine zeitlich nicht fixierte, aber durchaus kenntliche Kriegsgegend.

Am stärksten wirkt das Schlussbild des ersten Aktes, als Attila Papst Leo begegnet. Während der Papst (Gianluca Buratto), wie Attila auf einem echten Pferd sitzend, seinen Bann gegen Attila schleudert, bewegt sich im Hintergrund gefährlich ein Vulkan, und von der Decke herab drohen die Apostelfürsten Petrus und Paulus mit ihren Schwertern. Die im Vorfeld der Inszenierung angekündigte Zerstörung einer Marienstatue in einer Szene des zweiten Akts strich der Regisseur allerdings wieder, nachdem ein regionaler Politiker Einspruch erhoben hatte.

Gespür für Spannung

Ein Schwachpunkt von «Attila» ist der dritte Akt. Nachdem Temistocle Solera das Libretto nur bis zum zweiten Akt ausgeführt hatte, wurde dieses von Francesco Maria Piave vollendet. Dieser Schluss weist etliche dramaturgische Schwächen auf und ist im Vergleich zu den anderen Akten kurzatmig. Chailly fügt zwar eine Arie für Foresto ein, die Verdi für die Mailänder Erstaufführung von 1846 nachkomponiert hatte. Zudem hat der Maestro eine kleine Interpolation von Gioachino Rossini für das Terzett gefunden, die er vor der Presse sogar als Welturaufführung anpries. Trotzdem kann auch Chailly die Mängel des Schlussakts nicht aus der Welt schaffen.

Gleichwohl zeigt seine Interpretation, dass «Attila» ein spannendes Werk auf Verdis Weg zur Meisterschaft darstellt. Diese düstere Welt voller militärischer und religiöser Konflikte zeichnet er stimmig mit meist dunklen, satten Orchesterfarben nach. Die einzelnen Nummern der Oper fügt er mit untrüglichem Gespür für die dramatische Spannung aneinander. Und stets gipfelt das Ganze in den ausladenden Finalszenen, die bereits auf den späteren Verdi hinweisen. Als nächstes Frühwerk will Chailly zur Inaugurazione den noch reiferen «Macbeth» herausbringen, der inzwischen wieder einen festen Platz im internationalen Repertoire erobert hat. Nach diesem «Attila» darf man darauf umso gespannter sein.