„Oper in sechs Bildern, vier Passagen, einem Prolog, einem Vorspiel und einem Zwischenspiel“, und gemäß der kurzen Inhaltsangabe im Programmheft (eine ausführliche gibt es auch) springt ein gewisser Peter, „möglicherweise vollständig verkarpft, über Bord“. Das klingt eher nach einem komplizierten, anstrengenden Abend, aber dann kommt alles ganz anders…

Johannes Maria Staud hat sich bereits zum dritten Mal mit dem Literaten Durs Grünbein für die Erstellung einer Oper zusammengetan (jedoch erstmals im Auftrag der Wiener Staatsoper), und herausgekommen ist mit Die Weiden eine interessante Collage, in der vieles überspitzt, manches diffus, aber alles interessant imaginiert ist. Ein junges Paar unternimmt eine Flussreise mit dem Kanu, aber anders als bei Joseph Conrad, dessen Heart of Darkness eines von mehreren literarischen Quellen des Librettos ist, ist der Schauplatz nicht der Kongo, sondern die Donau, die bei Grünbein harmlos-verschlafen „Dorma“ heißt, jedoch ein unheimlicher Strom mit Weidendickicht und Mündung ins „Graue Meer“ ist. Die Menschen an den Ufern sind demagogischen Unsinn nachblubbernde Karpfen, auch wenn sie zunächst nicht danach aussehen: Sie tanzen in Glitzerkleidern auf der Hochzeit eines neureichen Paars oder vertilgen Mehlspeisen in einer Villa über jenem Fluss, in dem schon etliche den Tod gefunden haben. In Leas Halluzinationen begegnet man unter anderem einer untoten Selbstmörderin und in der Nazizeit ermordeten Juden, real einem ertrunkenen Flüchtling.

Zusammengenommen ergibt das ein Sittenbild Österreichs (und im weiteren Sinne: Europas), wie es einem per se nicht gefallen kann, aber „gefallen“ muss Kunst ebenso wenig wie die Realität maßstabgetreu wiedergeben. Verbunden werden die Bilder durch die besagte Flussreise, welche Schatten der Vergangenheit heraufbeschwört. Lea, eine junge jüdische New Yorkerin, hat sich gegen den Willen ihrer Eltern auf die Reise in deren alte Heimat gemacht, weil ihr neuer Freund und ihre Vorfahren von dort stammen. Das Kosmopolitische an Peter (kennengelernt hat man sich in London) ist aber nur ein dünner Anstrich, der am Wasserweg zurück in die Vergangenheit abgewaschen wird – durch die Begegnung mit seiner Herkunftsfamilie verwandelt sich der Liebhaber zurück in einen tumben Karpfen. Dass diese Beziehung nicht halten kann (eine Herausforderung war auch eine alkohol-induzierte nähere Begegnung mit dem jung-dynamischen Edgar und der hedonistischen Kitty), liegt auf der Hand.

Leider gerät aber gerade der Schluss im Vergleich zum Rest des Abends nichtssagend; nachdem sich der verkarpfte Peter Seinesgleichen angeschlossen hat, trifft Lea auf eine Schar ihrer ermordeten jüdischen Vorfahren und „erfährt dadurch eine Identitätsfindung“. Wenn man schon meint, nach einem Abend der feinen Klinge die Moralkeule auspacken zu müssen, hätte man besser auf eine Erkenntnis Peters oder seine Erlösung vom Karpfentum gesetzt, aber da wollte man vermutlich der sympathischen Protagonistin ein großes Finale bescheren – das es (außer musikalisch) dann doch nicht geworden ist.

Überhaupt besticht das Libretto nicht unbedingt durch maximale Schlüssigkeit, doch bleibt buchstäblich alles im Fluss, und die Sprache ist köstlich – in den vielen zauberischen Momenten spürt man, dass Grünbein eher Poet denn Dramatiker ist, und man bekommt geradezu Lust auf seine Lyrik. Besonders gelungen sind jene Stellen, die das Aufeinanderprallen der Kulturen schildern – jemand mit Multikulti-Hintergrund wird da wohl unweigerlich an eigene Erlebnisse erinnert, auch wenn diese vielleicht ganz anders gelagert sein mögen. Daran hat auch die Regiearbeit von Andrea Moses einen nicht unbeträchtlichen Anteil: Das konventionell-realistische Bühnenbild von Jan Pappelbauwird mit Videoeinspielungen ergänzt und sorgt dafür, dass sich einem die wilde Story von Karpfen und Menschen mühelos erschließt – als Publikum taucht man gern in diese Welt ein.

Die Musik bürstet manches im Libretto bewusst gegen den Strich und nützt alle Möglichkeiten, denn an musikalischen Einfällen herrscht bei Staud kein Mangel. Tanz- und Filmmusik, Spätromantisches und noch viel mehr stehen ganz selbstverständlich nebeneinander, ohne dass das Ganze zu einem belanglosen Zitate-Zirkus zu verkommt. Herrlich etwa die „exotische“ Begegnung von Lea mit Peters Eltern, die viel von dem hat, was man typischerweise in Dokumentarfilmen zur Tierwelt Afrikas zu hören bekommt. Dazu wird mit einer Vielzahl an Perkussionsinstrumenten Rhythmus erzeugt, und Klassisch-Orchestrales verbindet sich mit experimenteller Live-Elektronik zu einer abwechslungsreichen, die unterschiedlichen Qualitäten von Wasser evozierenden Klangkulisse.

Im Gegensatz zu den vielen überraschenden Details im Instrumentalen sind die Gesangslinien allerdings recht vorhersehbar, und die Anforderungen ans singende Personal (das oft sprechen muss) daher nicht besonders hoch. Die einzige Ausnahme bildet Edgar, für den Thomas Ebenstein bravourös zwischen Tenor und Countertenorstimme wechselt. Auch alle anderen hatten kaum Mühe, das Plansoll zu erfüllen: Hervorgehoben sei natürlich Rachel Frenkel als Sympathieträgerin Lea, zu der das charakteristisch Dunkel-Verwaschene in der Diktion von Thomas Konieczny (Peter) einen reizvollen Kontrast bildete. Unter den vielen erfreulichen Leistungen fielen auch Wolfgang Bankl (Demagoge/Oberförster) und Udo Samel (in der Sprechrolle des Komponisten) als Duo Infernale auf, und als hochstimmige Grufti-Gören sorgten die Hausdebütantinnen Katrina Galka und Jeni Houser für einiges Aufsehen. Geleitet wurde diese Welturaufführung in idealer Weise von Ingo Metzmacher.

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