Eine Oper gegen den Rechtsruck: Diese Karpfen sind auch bloss Menschen

Nach acht Jahren wagt die Wiener Staatsoper mit «Die Weiden» von Johannes Maria Staud auf ein Libretto von Durs Grünbein endlich wieder eine Uraufführung. Das Werk erzählt in klaren Bildern eine düstere Parabel von der Zukunft Europas.

Georg Rudiger, Wien
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Von wegen «blubb, blubb» – mit dieser Art von Flachwasserbewohnern ist nicht zu spassen: Szene aus der Wiener Uraufführungsproduktion von «Die Weiden». (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Von wegen «blubb, blubb» – mit dieser Art von Flachwasserbewohnern ist nicht zu spassen: Szene aus der Wiener Uraufführungsproduktion von «Die Weiden». (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Eine unbeschwerte Kanutour, die zur Reise in eine dunkle Vergangenheit wird, ein lieblicher Fluss, der sich zum todbringenden Strom entwickelt: Der Komponist Johannes Maria Staud und der Dichter Durs Grünbein erzählen in ihren bis dato drei gemeinsam konzipierten Opern von den Schattenseiten des Daseins. Das Erstlingswerk «Berenice» (2004) nach Edgar Allan Poe beschäftigte sich mit menschlichen Abgründen. Die 2014 am Luzerner Theater uraufgeführte Oper «Die Antilope» liess eine Firmenfeier zum Albtraum ausufern. Und auch ihre jetzt in Wien uraufgeführte Oper «Die Weiden» schaut unter die glatte Oberfläche und entdeckt Grausiges.

Die Erwartungen an das 140-minütige Werk für Orchester, Bühnenmusik, Chor, Solisten und Live-Elektronik waren hoch. Seit Aribert Reimanns gefeierter «Medea» im Jahr 2010 hatte es an der Wiener Staatsoper keine Uraufführung mehr gegeben. Das Thema der neuen Oper von Staud und Grünbein – der Rechtsruck in Europa und die Verdrängung nationalsozialistischer Herrschaftsmechanismen – birgt gerade in Österreich, wo mit der FPÖ eine stramm auf Rechtskurs marschierende Populistenpartei Regierungsverantwortung trägt, Zündstoff.

Durchhänger

Die durchaus erhoffte künstlerische Explosionskraft entwickelt der am Ende freundlich beklatschte Abend allerdings nicht. Nach sechs Bildern, vier instrumentalen Passagen, einem Prolog, einem Vorspiel und einem Zwischenspiel ist man am Ende als Zuhörer ein wenig verloren, weil die Geschichte, die sich eigentlich nach und nach zu einem Horrortrip zuspitzt, trotzdem seltsam verpufft. Auch entfaltet die hochdifferenzierte, stark bassgrundierte Musik von Johannes Maria Staud nicht durchgängig fesselnde Intensität, obwohl der umsichtige Ingo Metzmacher mit dem Wiener Staatsopernorchester ein weites Klangpanorama entfaltet. Zudem erweisen sich die vielen Sprechpassagen wie etwa die der ohnedies entbehrlichen Fernsehreporterin (Sylvie Rohrer) als problematisch für den Spannungsbogen, weil der Schritt zurück zur kühlen, abstrakt-bedrohlichen Musik nicht immer gelingt.

Ein schickes Hochhaus-Apartment in New York ist der Ausgangspunkt der Geschichte (Bühne: Jan Pappelbaum). Hier ist die junge Philosophin Lea (mit feinem, differenziertem Mezzosopran und mächtiger Ausstrahlung: Rachel Frenkel) zu Hause, sie plant allerdings eine Reise nach Europa, die ihre jüdischen Eltern (Herbert Lippert und Monika Bohinec) in Angst und helle Aufregung versetzt. Um die Tochter von ihrem Vorhaben abzubringen, singen sie zu eigenartig heiteren Jazzklängen die Legende von den Karpfenmenschen, die einst ihre Vorfahren vertrieben haben.

Lea aber lässt sich von den Unkenrufen nicht beeinflussen und sitzt schon bald mit ihrem neuen Freund Peter (mit mächtigem Bariton: Tomasz Konieczny), der ihr seine Heimat zeigen möchte, im Kanu. Das Liebesgeturtel wird vom düsteren Raunen des Orchesters bedroht, das SWR-Experimentalstudio (Klangregie: Michael Acker und Sven Kestel) steuert elektronische Verfremdungen bei. Der Fluss, der im Libretto Dorma heisst, aber unschwer als Donau zu erkennen ist, trägt die beiden frisch Verliebten in das Herz Europas. Er verändert sich, wird dunkler und gewaltiger (Video: Arian Andiel), ehe er am Ende über die Ufer tritt und alles mit sich reisst.

«Verkarpfung»

Der Fluss ist der rote Faden, der sich durch die von der Regisseurin Andrea Moses (die an der Stückentwicklung beteiligt war) klar und atmosphärisch dicht erzählte Geschichte zieht. Er ist zu hören im clustergetränkten Grundrauschen und in den wie Stromschnellen wirkenden Attacken von Blech und Schlagzeug, die das Orchester der Wiener Staatsoper mit kühler Präzision meisselt. Glissandi in den Kontrabässen ziehen einem regelrecht den Boden unter den Füssen weg. Der Fluss trägt das ungleiche Paar zu einer Hochzeit, wo sich die Partygemeinde bei seichten Musical-Klängen amüsiert und der Komponist mit dem eindeutigen Namen Krachmeyer (unheimlich mit beschwörendem Ton: Udo Samel) zu Musik von Wagner über die blutgetränkte, reine Heimat schwadroniert.

Das Hochzeitspaar Edgar (Thomas Ebenstein) und Kitty (Andrea Carroll) nimmt Lea und Peter auf seiner Jacht mit. Lea erschrickt nicht nur wegen erotischer Verwicklungen, sondern begegnet auch seltsamen Gestalten wie einer Untoten, einem faselnden Angler und einem brutalen Förster, der einen Flüchtling erlegt. Sie ist auch Gast beim beklemmenden Dinner von Peters Eltern, bei dem neben Unmengen an Mehlspeisen auch Gewehre und Karpfen serviert werden, die sich die schrägen Schwestern Fritzi und Frantzi (brillant mit glasklarer Koloratur und kristalliner Höhe: Katrina Galka und Jeni Houser) kurzerhand auf den Kopf setzen (Kostüme: Kathrin Plath). Und bald nimmt eine allgemeine «Verkarpfung» der Figuren, die für Staud und Grünbein ein Bild für die Entmenschlichung ist, ihren Lauf.

Ohne Stachel

Bei einem derben Volksfest, auf dem ein Dorfpolitiker (Wolfgang Bankl) Hetzreden schwingt, werden aus den zünftigen Heimatverbundenen dumm glotzende, grölende Karpfen. Hier spitzt Staud auch die Musik zu und lässt die sechs Schlagzeuger, die mangels Platz im Orchestergraben aus dem Orgelsaal im sechsten Stock zugespielt werden, harte Rhythmen hämmern. Nach dieser Entfesselung verwundert indes die musikalische wie erzählerische Zähmung, die bis zum offenen, ratlosen, obendrein von den Autoren gekürzten Schluss Platz greift. Die Verkarpfung von Peter, die in seiner per Live-Elektronik verfremdeten Stimme sogar zu hören ist, wäre entscheidender Moment in der Geschichte, wird aber szenisch verschenkt.

Schliesslich irrt Lea einsam umher und trifft auf ihre Vorfahren – eine Erinnerung an die im niederösterreichischen Hainburg im März 1945 ermordeten jüdischen Zwangsarbeiter. Der Auftritt des Chores (Leitung: Thomas Lang) wirkt freilich gewollt und hängt auch kompositorisch in der Luft. Die Spurensuche von Staud und Grünbein verliert sich im Nirgendwo, und die Oper verstummt gerade da, wo eine klare Parteinahme angebracht wäre. Das sorgt für eine Schieflage der Gesamtdramaturgie und nimmt dieser über weite Strecken schlüssig erzählten Geschichte, die aufwühlen könnte und sollte, den Stachel.