halloherne.de

lokal, aktuell, online.
Überragend: Dongmin Lee (Leila) und Stefan Cifolelli.

Beglückende Wiederentdeckung am MiR

Bizets Perlenfischer

In Georges Bizets 1863 in Paris uraufgeführter Oper Die Perlenfischer, die das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier in einer die Urfassung rekonstruierenden Neuausgabe aufführt, verbindet die beiden Taucher Zurga (Piotr Prochera) und Nadir (ein lyrischer Tenor der Extraklasse als Gast: Stefan Cifolelli) eine Freundschaft seit Kindertagen. Die auf eine harte Probe gestellt worden ist, als sich beide gleichzeitig in die schöne Priesterin Leila (Ovationen für Dongmin Lee) verlieben. Während Zurga auf Ceylon blieb und inzwischen zum Anführer des Dorfes gewählt worden ist, reiste Nadir ruhelos um die Welt. Und kehrt nun ausgerechnet zu einem Zeitpunkt in seine Heimat zurück, als – ein traditionsreicher alljährlicher Brauch - eine verschleierte Priesterin von weit her ins Dorf gebracht wird.

Anzeige: Spielwahnsinn 2024

Die wie eine Heilige verehrte Jungfrau soll mit Liedern und Gebeten die Fischer beschützen. Ihr Begleiter, der Hohepriester Nourabad (Michael Heine), wacht über die Einhaltung ihres Keuschheitsgelübdes. Doch Nadir erkennt in der Unbekannten sogleich Leila – und beide vergessen in einer Liebesnacht alle Schwüre. Zurga hat nach dem Gesetz keine andere Wahl, als die von Nourabad entdeckten Wortbrüchigen der Lynchjustiz der Dorfgemeinschaft zu übergeben. Als er Leilas Identität gewahr wird, lässt der rasend Eifersüchtige alle Pläne zur Begnadigung der Liebenden fallen… Mit „Les pecheurs de perles“ hatte der 24-jährige Bizet, der seine erste Oper binnen zehn Wochen schrieb, kein Glück. Die ursprünglich in Mexiko spielende Dreiecksgeschichte über Liebe, Eifersucht, Verrat und Rache ist mehrfach bearbeitet worden, um die dramatischen Effekte dieser großartigen, in weiten Teilen lyrisch-romantischen Oper zu verstärken. Zudem kürzten Prinzipale den Dreiakter willkürlich aus Rücksicht auf das Vorstadtpublikum, das noch den letzten Zug erreichen musste.

Erst 2015 setzt mit der Edition einer Neuausgabe, welche die Urfassung Bizets rekonstruiert, eine Wiederentdeckung der „Perlenfischer“ ein. Freilich verbunden mit den Segnungen modernen Regietheaters, die Bandbreite reicht von Penny Woolcocks in einem asiatischen Slum samt Kinderarbeit angesiedelten Inszenierung an der New Yorker Met bis hin zum Opern-Debüt des Filmemachers Wim Wenders, der auf den Exotismus des 19. Jahrhunderts rekurrierend die Berliner Staatsoper in kitschige Sri-Lanka-Touristenmotive taucht. Am Kennedyplatz hat sich der gebürtige Oberhausener Manuel Schmitt für die sozialkritische Version entschieden: Zitate des britischen Sozialisten Leonard Sidney Woolf aus seiner im übrigen erst 1921 edierten schonungslosen Anklage Pearls and Swine rahmen einen musikalisch in jeder Hinsicht beglückenden, inszenatorisch dagegen enttäuschenden zweieinhalbstündigen Abend. Um mit Woolf zu beginnen: als britischer Kolonialbeamter auf Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, war der spätere Publizist, Verlagsgründer und Gatte Virginia Woolfs kein Chronist mit Außenperspektive, sondern selbst Teil des Problems.

Perlenfischer-Demo gegen Arbeitsbedingungen.

In den Umbaupausen zwischen den Akten kommt eine Zeitzeugin zu Wort, die Mutter eines von 259 Opfern, darunter vielen Kindern, die am 11. September 2012 in Pakistan beim Brand einer Textilfabrik im Armenviertel von Karachi, die unter andrem für den deutschen Discounter KiK unter menschenunwürdigen Bedingungen fertigt, ums Leben kamen. Das alles ist so wohlfeil wie es aufgesetzt wirkt, was auch für die martialische, Tränengas einsetzende Soldateska gilt, welche die Demonstrationen der MiR-Perlenfischer („I don’t die for your Pearls“) eindämmen. Geht es bei Bizet neben dem zentralen Motiv der Dreiecksgeschichte doch um die unbedingte Kameradschaft der Perlensucher bei ihren lebensgefährlichen Tauchgängen: Jeder muss sich auf den anderen verlassen können. Weshalb sie immer auch um den Schutz einer höheren, einer göttlichen Macht flehen, um sich einer solchen Gefahr überhaupt weiterhin aussetzen zu können. Eine unmittelbare Parallele zur gerade zu Ende gegangenen Epoche des Steinkohlebergbaus an Ruhr und Emscher. Sie klingt immerhin bei den Ausstattern Bernhard Siegl (Bühne) und Sophie Reble (Kostüme) an: Die Seilwinde der Taucher ähnelt einer Seilscheibe im Bergbau und die im leuchtenden Yves-Klein-Blau verfärbten Klamotten und Extremitäten der Fischer an die kohlengeschwärzten Kumpel nach einer Unter-Tage-Schicht.

Anzeige: Glasfaser in Crange

Zum am Premierenabend des 22. Dezember 2018 bedeutenderen musikalischen Part: Mit dem Italiener Giuliano Betta steht der neue Erste Kapellmeister des MiR am Pult einer wunderbar filigranen Neuen Philharmonie Westfalen. Die dem ausnahmslos überzeugenden Solistenquartett um die völlig zu Recht stehend gefeierte koreanische Sopranistin Dongmin Lee und den herausragenden lyrischen Tenor Stefan Cifolelli, der gebürtige Belgier steht in Barrie Koskys Intendanz regelmäßig auf den Brettern der Komischen Oper Berlin, dienend statt auftrumpfend gegenübertritt. Als Kind entzückt Aitana, die Tochter des Tänzers Jose Urrutia, als Taucher im Video ist Michael Bittinger zu sehen. Wieder auf dem Spielplan am 27. und 30. Dezember 2918, 4., 19. und 27. Januar 2019, 17. Februar, 10. und 24. März sowie am 27. April 2019, Karten unter musiktheater-im-revier.de oder Tel 0209/40 97 200.

| Autor: Pitt Herrmann