Bianca Tognocchi (li.) als Amina und Tänzerin Katharina Glas.

Foto: APA/Enrico Nawrath

In den Tagen nach Weihnachten befindet sich der Mensch, aller Festtagsmast zum Trotz, in einer Art Schwebezustand. Das alte Jahr ist schon fast im Nebel der Vergangenheit versunken, das neue noch ein Schemen. Was war? Was wird kommen? Man taumelt im Ungewissen.

Auch die Tiroler Festspiele Erl befinden sich gerade in einer Übergangszeit. Der vormalige künstlerische Leiter und Übervater, Gustav Kuhn, hat aufgrund von Missbrauchsvorwürfen im Oktober alle Funktionen niedergelegt. Der neue Intendant aus Frankfurt, Bernd Loebe, verantwortet die Festspiele erst ab September 2019.

Allerhand Ersatz

Da Kuhn in Erl ein Faktotum, ein musikalisch-szenischer Gesamtkunstwerker war, musste der interimistische künstlerische Leiter Andreas Leisner für den Allesmacher allerhand Ersatz finden. Im Oktober dieses Jahres wurde mit Riccardo Canessa der neue Regisseur für Bellinis La sonnambula verpflichtet. Geheimnisvollerweise weht und wandelt dennoch der Geist des Selfmade-Regisseurs Kuhn durch diese Inszenierung: Wie immer präsentiert sich die Bühne des Festspielhauses fast requisitenfrei, von wenigen besteig- und rollbaren geometrischen Objekten abgesehen: Same procedure as every year.

Die Figur der nachtwandelnden Titelheldin wird mit einer Tänzerin (Katharina Glas) gedoppelt, die in einer Art Bewegungstourettesyndrom deren temporäre Entrücktheit – oder deren eruptive sexuelle Energien? – auszudrücken hat. Dabei wischt die junge Frau mit ihren meterlangen blonden Locken hingebungsvoll den Bühnenboden des Festspielhauses auf. Konträr zu diesem zeitgenössischen Ausdruckstanz und der abstrakten Geometriefigurenlandschaft gaukeln die Kostüme des Chors ein klischeemalerisches, properes Arme-Leute-Biedermeier vor – immerhin vor einem faszinierenden Hintergrund und fallweise stimmungsvoll beleuchtet (Bühne: Alfredo Troisi, Kostüme: Mariano Tufano).

Wenig Schöngesangskoma

Ein exzellenter Stimmungsmacher lenkt auch die musikalischen Geschicke: Friedrich Haider animiert das Festspielorchester zu einem Bellini, der neben Kantabilität und Sensibilität auch mit Frische und Verve begeistert. Da auch der Chor (Leitung: Olga Yanum) abwechslungsreich zu singen versteht, halten sich die Fälle von akutem Schöngesangskoma selbst im längeren ersten Akt in Grenzen.

Dem ehemaligen Musikdirektor des Slowakischen Nationaltheaters stehen für diese Belcanto-Unternehmung zudem exzellente Solisten zur Verfügung: Die Erl-erfahrene Bianca Tognocchi gibt die Amina mit höhensicherem, beweglichem Koloratursopran und erfüllt jede Note mit Innigkeit und Intensität.

Ewig könnte man Hui Jin zuhören, so weich, gelassen und kraftvoll, wie er Freud und Leid des Elvino aus sich herausströmen lässt: ein lyrischer Tenor mit kompakter Stimmstatur, ein Hauch von Pavarotti. Giovanni Battista Parodi steuert als Rodolfo noble, raumgreifende Bassbaritonautorität bei, Sabine Revault d'Allonnes gibt eine energische Lisa, Marta Lotti sorgt sich als Teresa ergreifend um ihre nachtaktive Tochter. Die Besetzungen wechseln.

Zum Finale findet Aminas Schwebezustand ein glückliches Ende, das Waisenkind erfährt in ihrer Verbindung mit Elvino eheliche Erdung. Bleibt nur zu wünschen, dass es den Tiroler Festspielen mit Bernd Loebe bald ähnlich ergeht. Premierenbegeisterung in Erl. (Stefan Ender, 30.12.2018)