Hier spielt man Mozart als Ego-Shooter: «Don Giovanni» am Luzerner Theater

Der Luzerner Intendant Benedikt von Peter inszeniert Mozarts «Don Giovanni» und zeigt einmal mehr, warum sein Theater zurzeit das interessanteste der Schweiz ist.

Tobias Gerosa, Luzern
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Das Lustprinzip bleibt unsichtbar – seine Wirkungen nicht: Benedikt von Peters Inszenierung von Mozarts «Don Giovanni» am Luzerner Theater. (Bild: Ingo Hoehn / Luzerner Theater)

Das Lustprinzip bleibt unsichtbar – seine Wirkungen nicht: Benedikt von Peters Inszenierung von Mozarts «Don Giovanni» am Luzerner Theater. (Bild: Ingo Hoehn / Luzerner Theater)

Don Giovanni – das sind lediglich zwei Hände im Infrarotlicht auf einer Leinwand. Mehr bekommt man vom Titelhelden in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper am Luzerner Theater erst beim Schlussapplaus, ausserhalb der Fiktion, zu sehen. Hände, die herrisch befehlen. Hände, die Frauen fordernd an sich ziehen. Hände, die zärtlich streicheln. Hände, die schliesslich verbrennen und die, wenn es erstmals Licht wird, nichts als eine kalte, leere Bühne hinterlassen haben.

Jeder im Publikum sieht die Hände, als wären sie seine eigenen: Diese Oper spielt in der Ich-Perspektive eines Computerspiels. Wir schauen mit der Kamera aus Giovannis Augen auf das Geschehen. Gefilmt wird hinter der halbtransparenten Leinwand mit spezieller Infrarotkamera im Dunkeln. Dass die Winkel und Ausschnitte immer stimmen, ist eine Glanzleistung des Live-Kameramannes Carlos Isabel Garcia. Dem Regisseur Benedikt von Peter gelingt mit diesem technischen Kniff aber viel mehr: Er macht das «Prinzip» Don Giovanni sichtbar.

Verführung des Publikums

Das ist typisch für den inszenierenden Luzerner Intendanten: Er verführt das Publikum mit theaterpraktischen Tricks, um damit radikale Neubefragungen plausibel und schmackhaft zu machen. Bei der Premiere erntet er dafür einhelligen Jubel. Das Modell gilt für von Peters Programm allgemein, das erfolgreich Ungewohntes präsentiert. Programmatisch startete er seine Intendanz mit dem nicht nur schwierig umzusetzenden, sondern auch nicht eben leicht zu hörenden «Prometeo» von Luigi Nono, lockte das Publikum für «Rigoletto» erfolgreich in eine abbruchreife Fabrik am Stadtrand, füllt das Haus mit einer «Traviata», die den ganzen Abend allein auf der Bühne ist, und kehrt dieses Prinzip nun in «Don Giovanni» überzeugend um.

Die Klassiker werden neu und radikal befragt – und das Publikum, die Zahlen für die Saison 2017/18 zeigten es soeben, steigt darauf ein und lässt sich dann auch für weniger bekannte Stücke verführen. Das funktioniert nicht nur mit von Peters eigenen Inszenierungen. So nimmt es nicht wunder, dass von Peter nach nur zwei Jahren in Luzern zur Spielzeit 2020/21 ans Basler Theater abgeworben wurde. Und da dessen Intendant schon im Sommer 2019 ans Residenztheater München wechselt, wird von Peter faktisch eine Spielzeit lang zwei Theater leiten.

Vielleicht hat er ja noch die eine oder andere Arbeit im Köcher, die er – wie jetzt mit dem schon 2014 für die Staatsoper Hannover entstandenen «Don Giovanni» – nicht von Grund auf neu erarbeiten muss. Warum auch nicht? Dieser «Don Giovanni» wirkt frisch und ist überwiegend aus dem Luzerner Ensemble besetzt – etwas, wovon die Opern in Zürich oder Basel bereits weitgehend abgekommen sind. Und wer im Publikum, das jetzt auch wieder von Zürich und Basel aus anreist, hat diese Arbeiten in Hannover, Bremen oder Berlin bereits gesehen?

Prinzip des zügellosen Begehrens

Der Titelheld tritt also nicht auf. Jason Cox gibt ihm dennoch, rein stimmlich, machtvolle Autorität – zwischen zuckersüssem Schmeicheln und Befehlston. Sören Kierkegaard erblickte in diesem Don Juan die Verkörperung des «zügellosen Begehrens» und der Leidenschaft schlechthin. Er empfahl daher, die Oper nur mit geschlossenen Augen zu hören. Benedikt von Peter schafft es, mit seiner Perspektivumkehr dieses Prinzip zu zeigen, es offenen Auges spürbar zu machen: Alle fühlen sich hingezogen zu dieser Leerstelle Don Giovanni, dessen Ego-Perspektive auch uns als Theaterpublikum förmlich ansaugt.

 Conférencier der Lustbarkeiten: Vuyani Mlinde führt als Diener Leporello durch das verwerfliche Treiben. (Bild: Ingo Hoehn / Luzerner Theater)

Conférencier der Lustbarkeiten: Vuyani Mlinde führt als Diener Leporello durch das verwerfliche Treiben. (Bild: Ingo Hoehn / Luzerner Theater)

Wenn der Titelheld gerade nicht anwesend ist, spielt die Opernhandlung, vermittelt durch die Figur Leporellos. Vuyani Mlinde durchbricht dabei immer wieder die vierte Wand, denn der Diener agiert als eine Art Conférencier nah am Publikum, auf der Vorbühne vor der grossen Leinwand und manchmal auch direkt vor dem Orchestergraben. Dahinter: eben «er» beziehungsweise «es», das Lustprinzip.

Angst vor der Orgie

Zerlina, die zu verführende Magd, gibt sich vorne gegenüber ihrem Masetto kratzbürstig; doch schon ist sie mit einem Schritt hinter die Leinwand entschwunden und schwenkt auf dieser, also in Giovannis Perspektive, auf allen vieren in Dessous ihren Hintern. Diana Schnürpel ist darstellerisch eine vielschichtige Figur, Flurin Caduff wertet den oft tumben Masetto auch vokal erfreulich auf.

Noch klarer wird das Prinzip Giovanni im ersten Finale. Das Fest, zu dem er unter dem Motto «Viva la libertà!» alle einlädt, ist eine Orgie. Weichgezeichnet rücken Brüste und andere Körperteile in Grossaufnahme ins Bild. Donna Elvira, die als indisponiert angesagte und in der Intonation beeinträchtige, als Figur aber fesselnde Solenn’ Lavanant Linke, lässt sich davon sofort verführen. Donna Anna – Rebecca Krynski Cox kämpft mit der Tessitura, den Koloraturen und der Intonation – wird fast im selben Atemzug schwach. Masetto und Don Ottavio, dem Emanuel Heitz mit seinem hellen Tenor ein elegantes und sehr hörenswertes Profil gibt, schwanken vor der Leinwand zwischen Anziehung und Angst.

Dies alles macht diese aussergewöhnliche Inszenierung nicht bloss sichtbar, es lässt die Zuschauer sie hautnah miterleben, macht Oper sinnlich erfahrbar. Das zeichnet die Aufführung über alle technischen Tricks hinaus aus. Überdies dürfte die Produktion in den Folgevorstellungen mit Sicherheit gewinnen. Dem Luzerner Chefdirigenten Clemens Heil entgleitet die Koordination am Premierenabend noch erstaunlich oft. Und soviel Energie auch aus dem Luzerner Sinfonieorchester auf die Bühne drängt: Was fehlt, ist die Kraft des Leisen, auch wegen der eingesetzten Verstärkung. Dabei würde gerade dieses musikalische Paradox – eine Stärke, die aus der Zurücknahme kommt – so gut zu der aufregenden szenischen Lesart passen.