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Bühne und Konzert „La Bohème“ in Berlin

So hat das mit den Hipstern einmal angefangen

Leitender Feuilletonredakteur
Giacomo Puccini La Bohème Szenen aus »La Vie de bohème« von Henri Murger in vier Bildern [1896] Musikalische Leitung: Jordan de Souza Inszenierung: Barrie Kosky Bühnenbild: Rufus Didwiszus Bühnenbildmitarbeit: Jan Freese Kostüme: Victoria Behr Dramaturgie: Simon Berger Chöre: David Cavelius Kinderchor: Dagmar Fiebach Licht: Alessandro Carletti Auf dem Bild: Nadja Mchantaf (Mimì), Günter Papendell (Marcello), Vera-Lotte Böcker (Musetta) Foto: Iko Freese / drama-berlin.de Veröffentlichung bei Nennung des Fotografen/der Fotografin für Ankündigungen und redaktionelle Berichterstattung über die Produktion an der Komischen Oper Berlin honorarfrei. Reproductions for editorial purposes and program announcements covering the production at the Komische Oper Berlin are free of charge, if the photographer is fully credited. Bitte ein Belegexemplar an/ Please send a copy to: Komische Oper Berlin Pressestelle Behrenstr. 55-57 10117 Berlin presse@komische-oper-berlin.de Giacomo Puccini La Bohème Szenen aus »La Vie de bohème« von Henri Murger in vier Bildern [1896] Musikalische Leitung: Jordan de Souza Inszenierung: Barrie Kosky Bühnenbild: Rufus Didwiszus Bühnenbildmitarbeit: Jan Freese Kostüme: Victoria Behr Dramaturgie: Simon Berger Chöre: David Cavelius Kinderchor: Dagmar Fiebach Licht: Alessandro Carletti Auf dem Bild: Nadja Mchantaf (Mimì), Günter Papendell (Marcello), Vera-Lotte Böcker (Musetta) Foto: Iko Freese / drama-berlin.de Veröffentlichung bei Nennung des Fotografen/der Fotografin für Ankündigungen und redaktionelle Berichterstattung über die Produktion an der Komischen Oper Berlin honorarfrei. Reproductions for editorial purposes and program announcements covering the production at the Komische Oper Berlin are free of charge, if the photographer is fully credited. Bitte ein Belegexemplar an/ Please send a copy to: Komische Oper Berlin Pressestelle Behrenstr. 55-57 10117 Berlin presse@komische-oper-berlin.de
Party forever für Hipster von gestern: Szenenbild aus Puccinis "La Bohème" an der Komischen Oper Berlin
Quelle: Iko Freese / drama-berlin.de
Jung, unbekümmert, auf die eigene Selbstinszenierung bedacht, als gäbe es kein Morgen: Heute nennt man’s Hipster, früher „La Bohème“. Wie zeitlos Puccinis berühmteste Oper ist, kann man in Berlin bestaunen.

Sie können vor Kraft nicht gehen. Sie produzieren Kunstwerke, Pointen, Abenteuer, wo immer sie gerade stehen. Sie schöpfen derart aus dem Vollen, dass sie sogar bereit sind, ihre literarischen Manuskripte zu verfeuern, wenn es in ihrer Dachmansarde zu kalt ist und sie nichts anderes haben, um den Kanonenofen zu heizen.

Denn bei allem jugendlichen Furor, bei allem euphorischen Lebenshunger sind sie doch auch arm. Sind nicht Dandys oder Flaneure aus gutem Hause, sondern frühe Hipster ohne nennenswerten sozialen Hintergrund: allzeit bereit, sich auf verschwenderische Weise neu zu erfinden, aber eben ohne materiellen Rückhalt, auf den sie übrigens auch pfeifen.

„Vitelloni“, große Kälber, hat um 1950 in seinem legendären Film über Jungmännlichkeit, die sich auf dem Sprung befindet, Fellini diesen Typus genannt. Bei Puccini, der sie um 1900 musikalisch verewigte und dabei seinerseits auf einen französischen Roman zurückgriff, der weitere fünfzig Jahre zuvor erschien, heißt er noch „La Bohème“.

So alt wie die Menschheit

Die Namen wechseln also, doch das Phänomen ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst, obwohl es mit jeder Epoche eine andere Gestalt annimmt. Gemeint ist der magische Augenblick, in dem begabte, spielerische, eroberungslustige Twentysomethings ins Leben treten mit jener Unbekümmertheit, die nur an den Tag legt, wer seine eigene Sterblichkeit noch nicht erfahren hat.

Barrie Kosky, Herr über die Komische Oper, Meister eines urbanen zeitgenössischen Musiktheaters, hat sich jetzt zum ersten Mal den veristischen Puccini vorgenommen. Das Ergebnis wurde in der Hauptstadt mit ähnlicher Spannung erwartet wie das Comeback seines Pendants von der Sprechbühne, Frank Castorf, mit Brechts „Galileo Galiliei“. Doch im Gegensatz zu dem gleichfalls als Kultregisseur gehandelten Theatermann verzichtet Kosky auf alle Selbstreferentialität, auf alle Anreicherungen der Vorlage durch Anleihen bei Lieblingsautoren, künstlerischen Parallelwelten, Gegenwartsbezügen. Kosky gibt uns die Essenz des Stücks, führt einen durch tausend Formen gegangenen Repertoire-Klassiker zurück zum Ursprung.

Nun gut, im zweiten Akt, der im Café „Momus“ spielt, wird daraus ein bisschen „Ball im Savoy“ mit viel Strass und Straps und Federboas. Das hat dann auch nichts mehr mit dem Quartier Latin unter Louis Philippe zu tun, das sind die Grands Boulevards der Belle Epoque. Doch alles andere bleibt ein schlichtes Kammerspiel der Unbekümmerten, denen ihr kleiner Radius die Welt bedeutet. Da reicht eine Fototapete mit Parisveduten, denn dieses turbulente Frühlingserwachen könnte genauso gut in London, Berlin, Barcelona spielen.

Wie lebe ich? Ich lebe!

Immerhin gibt es eine historische Situierung durch frühe Fotografien. Im Hintergrund der Dachmansarde von Akt eins und vier sieht man die großen, grauen Fotoplatten der Daguerre-Zeit. Der Maler Marcello hantiert nicht mit dem Pinsel an der Staffelei, sondern mit Stativ und Kamera. Szenen gerinnen so zu Fotosessions. Und, ja, gewöhnungsbedürftig, irritierend: Mimi stirbt am Ende auf einem Stuhl, als sei’s ein Sitzen im Foto-Atelier. Rodolfo stehend hinter ihr, legt ihr besitzergreifend die Hände auf die Schulter. Recht so: Fotografie ist auch Bemächtigung, Übergriff.

Bemächtigung ist das Stichwort: Rodolfo, jener Held, der sich der ersten großen Liebe seines Lebens, eben Mimi, mit den Worten vorstellt: „Was bin ich? Ein Dichter. Was mach ich? Ich schreibe. Wie lebe ich? Ich lebe!“, Rodolfo, also, der sich auch Mimis sofort bemächtigt, ist die Unbekümmertheit in Reinkultur. Kosky besetzt ihn mit Jonathan Tetelman, einem Wunder an testosteronell aufgeladener stimmlicher Strahlkraft. Sein Schmettern übersteigt schier die Akustik dieser vergleichsweise kleinen Bühne, bricht sich bisweilen gellend an ihr. Seine Agilität, vom ersten Bild an konsequent ihm abgefordert, lenkt jedoch von jeglichem Einwand ab, zumal er auch noch aussieht wie der junge Giacomo Lauri-Volpi.

Nur eine Frau, nur diese Mimi der sagenhaft hingebungsvoll sich verströmenden Nadja Mchantaf kann die Drauflosgebärden ihres Rodolfo zähmen, zarter machen, schließlich umleiten in Fürsorglichkeit und Achtsamkeit: Ihre Krankheit zum Tode ist es ja, welche die ganze Bande, bestehend aus Rodolfo, Marcello (Günter Papendell), Schaunard (Dániel Foki), Colline (Philipp Meierhöfer) und Musetta (Vera-Lotte Böcker) aus ihre jugendlich selbstzentrierten Betriebsamkeit aufschreckt, zum Ein- und Innehalten zwingt, im Grunde zum Abschied von der Jugend.

Opfergänge der Maria Callas

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Dabei muss Koskys Mimi keineswegs zur Ikone werden. Der Regisseur denkt nicht an die Opfergänge einer Maria Callas, wenn er Nadja Mchantaf ihre Sterbeszene gestalten lässt. Sie bleibt die lebenslustige junge Frau vom Anfang des Stücks, nur dass sie das groß gemusterte Kittelkleid inzwischen mit einer Robe aus Organza vertauscht hat, denn auch Mimi hat sich, wie alle hier, vom Leben genommen, was das Leben nur so hergab. Wenn sie zum Schluss ihre Handschuhe und das Häubchen streichelt, die sie an die ersten Momente mit Rodolfo erinnern, ist mehr selig-satte Genugtuung im Spiel als Trauer und Wehmut.

Dafür sorgt nicht zuletzt das Orchester. Unter der Leitung von Jordan de Souza braust und tost es. Die weltabbildenden musikalischen Figuren Puccinis werde in all ihrer Härte, jedoch auch in ihrem Schmelz zupackend herauspräpariert. Verismus heißt auch, klaffende Widersprüche stehen zu lassen. In Koskys bei der Premiere umjubelter „Bohème“ hat Kitsch keine Chance. Das Ungewaschene, Unausgereifte, in das existenzieller Ernst einbricht, dominiert. So passt’s in diese Zeit. Puccini, das ist immer noch einer von uns.

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