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On the Town. Premiere 26.01.2019// Hildy Esterhazy (Zodwa Selele), Chip (Andreas Rainer). Foto: © Kirsten Nijhof
On the Town. Premiere 26.01.2019// Hildy Esterhazy (Zodwa Selele), Chip (Andreas Rainer). Foto: © Kirsten Nijhof
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Leonard Bernsteins „On The Town“ in der Musikalischen Komödie Leipzig

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„On The Town“ kam im Jubiläumsjahr 2018 zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein definitiv zu kurz. Dabei klotzt das 1944 am Broadway uraufgeführte und aus dem Sujet des Balletts „Fancy Free“ entwickelte Musical nur so von Attacken gegen den Geschlechterrollen-Wahn im Amerika der Jahre um 1940. Bernstein kehrt mit den Textbuch-Autoren Betty Comden und Adolph Green konventionelle Kontakt-Anbahnungsstrategien um. Wer kapert sich wen beim 24-stündigen Landgang der Matrosen Gabie, Ozzie und Chip?

Egal ob „On The Town“, „Wonderful Town“ oder „West Side Story“: In diesen Bernstein-Musicals wollen die Figuren teilhaben am Erfolg des „American Way Of Life“ und mehr noch am Amüsement des „Big Apple“. Zur Neuproduktion der Musikalischen Komödie erlebt der ungebremste Hedonismus von Leonard Bernsteins erstem Musical ein glänzendes Comeback. Der 24-stündige Landgang der Matrosen Gabey (Jeffery Krueger), Ozzie (Benjamin Sommerfeld) und Chip (Andreas Rainer) ist Vergnügen pur, selbst wenn die Übergänge von Tanz, Gesang und Dialog in der immer wieder von Applaus gestoppten und am Ende mit lautem Jubel bedachten Premiere noch nicht ganz miteinander verblendet waren. Aber es ist eine Frage von nur wenigen Vorstellungen, dass neben Genauigkeit und musikalischer Detailliebe mehr Schwung in die Sache kommt. Man merkt, dass das Ensemble dem Regisseur Cusch Jung bei diesem Stück blind vertraut. Und Stefan Klingele ist es mit dem Orchester der Musikalischen Komödie zum Glück nicht genug, sich auf das Brio und den Swing Bernsteins zu verlassen. Die Akkuratesse ist da, Drive und Smooth in greifbarer Nähe. Diese Produktion erfüllt mit einer derart peniblen Einstudierung alle Voraussetzungen, Glanz und Qualität im Repertoire nachhaltig zu bewahren.

Alle geben ihr Bestes, dass sich ein kleines Handicap des Stücks fast ganz verflüchtigt: Die Abenteuer der JunX auf ihrem Landgang wurden von den Autoren auf die drei mit geringer Zeitverzögerung erfolgenden Paarbildungen löblich gerecht verteilt. Aber gerade deshalb fehlen Möglichkeiten zum Crescendo der Szenen-Dynamik. Durch diese Symmetrien verlieren die Dialoge ausgerechnet vor den 156 Stationen der U-Bahn-Fahrt nach Conny Island ein wenig vom subversiven Sprengstoff-Potential. Das hat aber auch sein Gutes: Durch die Genauigkeit der Vorbereitung wird die glatte (Ober-)Fläche des Musicals zum konturierten Relief.

Magenschwinger ins Sonnenzentrum der Heteronormativität

Fast jeder dritte Satz ist ein kräftiger Magenschwinger ins Sonnenzentrum der Heteronormativität, umrahmt von burlesken Rand-Episoden. Angela Mehling bereitet als jeweils stilsichere Sängerin im Nachtclub Diamond Eddie's, in der ausgelassenen Congacobana Bar und im Abschleppschuppen Slam Bang Club das schiere Vergnügen. Wenn die drei Matrosen mit ihren willensstarken Mädchen-Fundstücken alle Niveaustufen des New Yorker Nachtlebens ansteuern, werden sie immer wieder mit dem von Bernstein durch verschiedene Kolorits gejagten gleichen Song konfrontiert.

Das ewig lockende, hungrige New York strahlt mit wechselnden Panoramen und Perspektiven aus Schwarz-Weiß-Blau grundierten Video-Ansichten und -Fahrten von Wolfgang Witt. Aber selbst sensationelle Schauplätze wie der Ausblick auf dem Empire State Building oder der Hafen von Brooklyn mit der Brückenansicht von unten verpuffen angesichts der Glanzleistungen des Balletts (Choreographie: Nathalie Holtom). Beim Chor (Einstudierung: Mathias Drechsler) beeindruckt das Blitztempo der Aktionen, die vielen Minirollen sind Salz und Pfeffer dieser Produktion. Karin Fritz‘ Bühne lässt viel Raum für tänzerisches Temperament, die Kostüme von Aleksandra Kica bedienen weder Klischees noch Karikatur. Klamauk bleibt an diesem Abend das Unwort.

Mehr noch als die Matrosen beeindrucken mindestens drei Traumfrauen: Nora Lentner ist Feuer und Eis als Nymphomanin Claire de Loone, deren anthropologischen Ambitionen zum ominösen Buchprojekt „Der moderne Mann – das unbekannte Wesen“ von kreatürlichen Interessenschwerpunkten – Pardon: Experimentierobjekten – ausgebremst werden. Zodwa Selele hat als Hildy Esterhazy ihren männlichen Taxifahrer-Kollegen alle Anmache-Strategien abgeschaut und verfeinert diese mit abgebrühter Coolness, von der Mann/Frau lernen kann. Kleines Pech bedeutet das nur für die als Sängerin und Schauspielerin in der Rolle der Ivy Smith debütierende Tänzerin Patricia Klages. Denn der mit queerer Nonchalance unterfütterte Plot steuert ‚straigt‘ darauf zu, dass ausgerechnet das alle Durchschnittserwartungen erfüllende „U-Bahn-Girl des Monats“ neben ihren steilen Geschlechtsgenossinnen etwas blässlich wirkt. Es ist einfach schwer, neben Hildys von der Grippe gebeutelten Mitbewohnerin Lucy Schmeller (Melissa Jung) oder der alkoholisierten Ballett-Dragonerin Madame Dilly (Sabine Töpfer) die richtigen Saiten mit der nötigen Spannkraft aufzuziehen.

Wenn die JunX nach knapp drei Stunden wieder auf ihr Schiff müssen und das gesamte Ensemble mit einer kraftvollen finalen Pose ins Publikum strahlt, dünkt einem der Abend noch immer zu kurz. Erst beim Schlussapplaus rekapituliert man, dass es auch ernste Töne gab: So Gabeys melancholisch verlorenen Song im Central Park und den Selbstbefreiungsschlag des Richters Pitkin (Michael Raschle), der sich ab sofort nicht mehr alles von allen bieten lassen will.

Unideologisch, undogmatisch, unkonventionell

Durch diese Produktion erübrigt sich so manche Gender-Diskussion. Denn hier nehmen sich die Figuren einfach, was sie wirklich wollen: Unideologisch, undogmatisch, unkonventionell. Deshalb sind die Gründe für den nicht so starken Erfolg von „On The Town“ schreiend deutlich. „On the Town“ ist einfach anders als die stock-heterosexuelle „West Side Story“ und der weitaus raffiniertere, aber sexuelle Neigungen verrätselnde „Candide“. Genau deshalb hat „On The Town“ als revitalisiertes Zeitdokument der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts in Sachen Diversity heute weitaus mehr Relevanz als eine Filmkomödie mit Doris Day und Rock Hudson oder die Serie „Sex And The City“, die im Vergleich mit „On The Town“ wie ein jaulendes Pseudo-Lamento erscheint. Diese Frischzellenkur für die Musikalische Komödie wird hoffentlich die anstehende Generalsanierung des Hauses Dreilinden und das zweijährige Domizil im nahe gelegenen Westbad überdauern.

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