Oper in Paris: Schafft Neues, Kinder!

Dreieinhalb Jahrhunderte musikalisches Theater an der Seine, dreissig Jahre Opéra-Bastille – wenn das kein Anlass zum Feiern ist. Von den zwei grossen Premieren zum Auftakt des Jubiläums 2019 kann indes nur eine überzeugen.

Christian Wildhagen, Paris
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Noch spielen Adam, Eva und Abel mit dem Apfel vom Baum der Erkenntnis – doch das Böse lauert schon: Szene aus Romeo Castelluccis Inszenierung von «Il Primo Omicidio». (Bild: Bernd Uhlig / Opéra National de Paris)

Noch spielen Adam, Eva und Abel mit dem Apfel vom Baum der Erkenntnis – doch das Böse lauert schon: Szene aus Romeo Castelluccis Inszenierung von «Il Primo Omicidio». (Bild: Bernd Uhlig / Opéra National de Paris)

Man muss das einmal bei Nacht erlebt haben. Nur so lässt sich das Phänomen wirklich ermessen. Wer bei Dunkelheit die kaum 800 Meter lange Magistrale entlangschreitet, die am Palais Royal und der Comédie-Française beginnt und in kühnem Nordwestschwung die Pariser Innenstadt zerteilt, erblickt am Ende dieser kapitalen Avenue eine Erscheinung. Ein Wunderwerk, leuchtend, wie aus einer anderen Welt – eine Belle-Epoque-Kommode, kurios ins Riesenhafte vergrössert, mit Zierrat und Säulen geschmückt bis zum Übermass, gekrönt von einem Runddach in Tortenform und überhöht mit dem Giebel eines Tempels. Seit 1875 steht das Prunk-Palais von Charles Garnier an der Place de l’Opéra und regt mit seiner neobarocken Kulissenherrlichkeit die Phantasien an. Sogar ein leibhaftiges Phantom soll in dessen Untergrund herumspuken.

Keine fünf Kilometer weiter östlich liegt seit genau dreissig Jahren ein ganz anderes Gebäude – an einem Platz, der schon seit 1789 wie eine urbane Grossbaustelle anmutet. Seit nämlich die entflammten Massen an jenem 14. Juli die Bastille in Schutt und Asche gelegt haben. Um die Wunde zu schliessen, die hier bis heute hartnäckig im Stadtbild klafft, liess der sozialistische Präsident François Mitterrand während der 1980er Jahre an diesem Ort seinen Traum einer «Bürgeroper» verwirklichen: das Ideal einer antielitären, von keinerlei gesellschaftlichen oder intellektuellen Hürden umstellten Musiktheaterbühne. Nüchtern, schmucklos, funktional – und leider auch fast frei von Charme. Im Umbruchsjahr 1989, symbolträchtig zum Jahrestag der Französischen Revolution, wurde das heftig umstrittene Haus eröffnet. Und danach sofort wieder geschlossen – bis die hypermoderne Technik tat, was sie sollte, verging noch fast ein Jahr.

Im reizvollen Spannungsfeld zwischen dem Palais Garnier, diesem herrlich plüschigen Theatertraum des Second Empire, und der inzwischen weithin akzeptierten, aber wenig geliebten Opéra-Bastille spielt seit drei Jahrzehnten das Opernleben von Paris. Das ist für Frankreich, ähnlich wie für Deutschland und Österreich, noch immer nicht irgendeine Kunstform, sondern nach wie vor – und aller aufkeimenden Digitalkonkurrenz zum Trotz – ein zentrales Medium der Selbstdarstellung wie der künstlerischen Selbstvergewisserung. Ob freilich ein Renommierprojekt wie die Opéra-Bastille, zudem an derart geschichtsträchtigem Ort, politisch heute noch durchsetzbar wäre, steht auf einem anderen Blatt.

Doppeljubiläum

Umso demonstrativer nutzt die Opéra National de Paris unter ihrem seit 2014 amtierenden Intendanten Stéphane Lissner das 30-jährige Bestehen des Baus für Jubiläumsfeierlichkeiten, die das gesamte Jahr andauern werden. Zumal die Archivare des Hauses auch gleich noch zwei weitere Gedenkanlässe zutage gefördert haben: 2019 begeht man den 150. Todestag von Hector Berlioz, des wundersamsten, radikalsten aller französischen Komponisten; und volle 350 Jahre ist es her, dass Ludwig XIV. in sonnenköniglicher Herrlichkeit dem Abbé Perrin die Gründung einer Académie de l’Opéra, der späteren Académie Royale de Musique, befahl. Die in Florenz geborene Oper war damals, 1669, selbst noch eine junge Gattung.

Heute bemüht man sich an den beiden Pariser Häusern – zu denen als drittes noch die nicht minder traditionsreiche, administrativ aber unabhängige Opéra-Comique in der Salle Favart hinzukommt – wieder verstärkt um eine zeitgemässe Regie- und Opernsprache, die nach dem Ende der Ära Gerard Mortiers (2004 bis 2009) unter dessen Nachfolger Nicolas Joel ein wenig ins Hintertreffen geraten war. Dafür standen nicht zuletzt die Namen der beiden international hoch gehandelten Regisseure, die zur Eröffnung des Jubiläumsjahres eine veritable Doppelpremiere auf beide Bühnen stemmten. Was Romeo Castellucci im Garnier und Dmitri Tcherniakov an der Bastille zeigten, erschien ästhetisch allerdings mindestens so gegensätzlich wie die zwei Opernhäuser.

Der erste Mord

Dabei sind Castellucci und Tcherniakov beide als inszenierende «Denker» bekannt, die sich nicht mit der blossen Bebilderung zufriedengeben und tief in Stoffgeschichte und Sujet ihrer Stücke einzudringen pflegen. Castellucci, im Sommer zu Recht für seine faszinierende «Salome»-Deutung bei den Salzburger Festspielen gefeiert, gelingt auch in Paris ein packender Zugang zu Alessandro Scarlattis Oratorium «Il Primo Omicidio» von 1707.

Das biblische Drama um Kain und Abel, angesichts der Qualität seiner feinsinnigen Musik völlig zu Unrecht selten (und an diesem Abend erstmals szenisch in Paris) gespielt, ist ein Werk nach Castelluccis Geschmack: Kann der theologisch äusserst fundierte Interpret hier doch das gesamte Instrumentarium seiner magischen Bühnensprache zur Anwendung bringen. Er tut dies, wie immer in Personalunion auch sein eigener Ausstatter, in betörend schönen, teilweise aufrüttelnden Bildern – nicht gar so bezwingend zugespitzt wie bei der Salzburger «Salome», aber mit klaren Zeichen.

So ist Kain für Castellucci nicht bloss ein Werkzeug des Bösen in den Händen des gefallenen Engels Luzifer (Robert Gleadow). Kain nimmt die Rolle als erster Mörder der Menschheitsgeschichte, der seinen arglosen Bruder Abel (Olivia Vermeulen mit silbrigem Unschuldssopran) heimtückisch aus Neid und falschem Ehrgeiz erschlägt, vielmehr sehr bewusst an: als eine ihm auferlegte Schicksalsbürde und Daseinsverpflichtung – ganz so wie nach ihm diejenige des Judas, der Jesus verraten muss und gleichwohl Teil der Heilsgeschichte bleibt.

Castellucci und die ausdrucksstarke Sängerin Kristina Hammarström lassen uns denn auch tief in das Seelenleben eines Zerrissenen blicken, dessen schlimmste Strafe eben darin besteht, nach der Tat weiterleben zu müssen und künftig wie Ahasver heimatlos auf der wüsten, leeren Erde umherzuirren. René Jacobs und das ungemein mild und farbenreich musizierende Genter B’Rock Orchestra intensivieren diesen Blick paradoxerweise gerade durch die Schönheit der Musik bis an die Schmerzgrenze – Kains Abschiedsarie an Adam und Eva «Miei genitori, addio», begleitet von zwei obligaten Soloviolinen, wird zum Höhepunkt des Abends.

Castelluccis Inszenierung verschärft die philosophische Irritation noch weiter: Nach Kains Untat treten im zweiten Teil Kinder-Doubles an die Stelle der Oratoriensänger, die fortan überwiegend auf ihrem angestammten Platz im Orchester agieren. Szenisch überzeugt das etwas bemühte Mickey-Mousing zwischen Doubles und Solisten nur bedingt, es zwingt uns Betrachter aber zum Nachdenken: Fällt die Menschheit mit dem Mord zurück auf das geistige Niveau von Kindern? Oder bedarf es gerade kindlicher Einfalt, um die Möglichkeit von Vergebung als Ausweg aus dem Dilemma der Tat zuzulassen?

Und wo bleibt das Schlachtross?

Vielleicht hätte Dmitri Tcherniakov ein paar mehr solch philosophischer Fragen an seinen Stoff richten sollen. Doch Berlioz’ ebenso gewaltige wie unorthodoxe Grand Opéra «Les Troyens», mit der man schon 1989/90 die Opéra-Bastille eingeweiht hatte, blieb szenisch ein leeres Versprechen. Nach dem noch weitgehend unfallfrei, in recht zahmer Aktualisierung (und folglich ohne mythisches Schlachtross) umgesetzten Troja-Teil erzürnte der zweite, «Les Troyens à Carthage», das kritische Pariser Publikum derart, dass es das Regieteam am Ende mit einem beispiellosen Buh-Orkan von der Bühne fegte.

Seht her, ich bin der Hannibal: Szene aus dem zweiten Teil der «Trojaner» von Hector Berlioz in der Regie von Dmitri Tcherniakov. (Bild: Vincent Pontet / Opéra National de Paris)

Seht her, ich bin der Hannibal: Szene aus dem zweiten Teil der «Trojaner» von Hector Berlioz in der Regie von Dmitri Tcherniakov. (Bild: Vincent Pontet / Opéra National de Paris)

Tatsächlich verrennt sich Tcherniakov – auch er wie stets sein eigener Bühnenbildner – völlig mit der Idee, die drei langen Karthago-Akte in ein Pflegeheim für Kriegstraumatisierte zu verlegen. Der szenisch starre Rahmen des Einheitsraumes zwingt ihn nämlich, die Sage um Dido und Äneas als Spiel im Spiel zu zeigen. Und dieses Als-ob mit improvisiertem Pappkrönchen und allerlei abgestandenen Anleihen beim epischen Theater nimmt sich neben dem auf Unmittelbarkeit zielenden Pathos von Berlioz’ Musik etwa so schlüssig aus wie eine Marionettendarbietung zu Wagners «Götterdämmerung».

Philippe Jordan, der Schweizer Musikdirektor der Opéra und designierter Chefdirigent der Wiener Staatsoper ab 2021, versucht im Graben zu retten, was angesichts der um sich greifenden Langeweile auf der Bühne musikalisch zu retten ist. Doch auch seine Lesart wirkt streckenweise seltsam matt, Berlioz’ kühne Instrumentationseffekte dringen kaum bis ins obere Parkett. Gleichzeitig kämpfen der durchaus engagiert agierende Chor und die Sänger des riesigen Ensembles mit den Tücken der immer schon heiklen Bastille-Akustik.

Idiomatisch klingen unter den Protagonisten nur der Choroebus von Stéphane Degout und die mit viel Verve an der Welt verzweifelnde Kassandra von Stéphanie d’Oustrac. Dem Äneas von Brandon Jovanovich, den die Regie sinnwidrig als Verräter und politischen Intriganten desavouiert, fehlt dagegen der Feinschliff des französischen Tenorfachs, und die in italienischen Mezzo-Rollen so oft beeindruckende Ekaterina Semenchuk tönt als Dido streckenweise eher wie eine verirrte Verdi-Heroine. Für diesen Ort, für diesen Anlass ist das zu wenig.

CD-Hinweis: Alessandro Scarlatti, «Il Primo Omicidio overo Cain». Bernarda Fink, Graciela Oddone, Dorothea Röschmann, Richard Croft, René Jacobs, Antonio Abete; Akademie für Alte Musik Berlin, René Jacobs (Leitung). Harmonia Mundi CD HMM 931649.50 (2 CD).

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