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"Orphée et Eurydice" in Hamburg
Getanzte Trauerarbeit

John Neumeier macht aus Glucks Oper "Orphée et Eurydice" an der Staatsoper Hamburg ein Tanzstück mit Gesang. Zum ersten Mal hat der Hamburger Ballettchef dabei Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme allein entworfen - und die Handlung spielt dort, wo er sich am besten auskennt: im Ballettsaal.

Von Andreas Berger | 04.02.2019
    30.01.2019, Hamburg: Die Tänzer Edvin Revazov (2.vr) als "Orphée" und Anna Laudere (r) als "Eurydice" tanzen mit zwei Tänzern des Ballettensembles auf der Fotoprobe von "Orphée et Eurydice".
    Die Tänzer Edvin Revazov (2.vr) als "Orphée" und Anna Laudere (r) als "Eurydice" tanzen mit zwei Tänzern des Ballettensembles auf der Fotoprobe von "Orphée et Eurydice". (dpa/ picture alliance/ Markus Scholz)
    Der Verlust geliebter Menschen. Ein Lebensthema. Und immer wieder der hilflose Trostspruch: In den Erinnerungen leben sie weiter. Was tun, wenn die Frau nach einem Streit aus dem Haus gelaufen ist, vom Job oder von der Probe, direkt vors Auto. Wir sehen in John Neumeiers Inszenierung der Gluckschen "Orpheus"-Oper, wie schon in seinem Ballett vor zehn Jahren, das Auto, hören die Bremsen quietschen, sehen Eurydike darunter hervorkullern, hören das Martinshorn des Rettungswagens. Bei Orpheus auf der Seitenbühne klingelt das Handy. Einer jener Anrufe, die das Leben verändern. Der Rest ist Trauerarbeit. Traum einer Wiederkehr und die Geburt eines Kunstwerks. John Neumeier, der Hamburger Ballettchef, hat sich zum wiederholten Male des Orpheus-Mythos auf der Bühne angenommen. 1974 schuf er die Choreographie für eine Frankfurter Inszenierung von Filippo Sanjust. Später inszenierte er die Oper in Hamburg und schuf 2009 sein eigenes Orpheus-Ballett - ohne Gluck-Musik.
    "Für mich ist Orpheus ein Künstler"
    "Für mich ist Orpheus ein Künstler. Wenn ich jemanden so sehr liebe, dass ich versuche, das Unmögliche zu machen, aber dadurch dass ich Mensch bin, schaffe ich das nicht, so habe ich die Möglichkeit, dass dieser Mensch weiterlebt in meiner Kunst. Das ist quasi die Lösung, die ich für dieses sogenannte Happy ending gefunden habe."
    Eine Oper der Verlustbewältigung. Verluste, die der demnächst 80-Jährige nun stärker spürt und noch einmal kreativ verarbeiten wollte?
    "Ich habe dieses Thema nicht genommen, weil ich das Gefühl habe, ich wäre älter und jetzt wäre mir diese Idee von Verlust viel näher. Wenn man als Mensch die Zeit der Aids-Epidemie erlebt hat, ist die Idee von Verlust viel zu eng auch an jüngere Menschen gekommen. Ich glaube, dass jedes Werk, das ich anfasse, mit meiner menschlichen Erfahrung zu tun hat, und so ist es auch bei 'Orpheus'."
    Für seine vierte Auseinandersetzung mit dem Mythos, der dritten mit Glucks Oper, hat Neumeier nun zum ersten Mal Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme allein entworfen. Und die Handlung spielt da, wo sich Neumeier vielleicht am besten auskennt: im Ballettsaal, auf der Bühne. Orpheus ist Choreograph, seine Frau die Erste Tänzerin. Zur Ouvertüre gibt es Etüden, Eurydike verspätet sich, guckt Werbefotos an, tändelt mit dem langen Haar und ihrem Schal. Seinen Tadel quittiert sie mit einer Ohrfeige und geht. Unfall. Klagechöre, die von Neumeier gewählte Pariser Fassung der Gluck-Oper ist ein Opéra-Ballet mit ausgedehnten Instrumentalpassagen für den Tanz. Dafür hat er sein Hamburg-Ballett. Zärtlich umfangen die Tänzer ihre Partnerinnen von hinten, lassen sie in die Grätsche gleiten, als sei keine Kraft mehr in ihnen, heben sie an, dass sie nur mit den Spitzen noch auf den Boden tupfen, Schwebende, schon im Übergang zum Jenseits.
    Ins Jenseits will auch Orpheus, um seine Geliebte zurückzubitten. In einem kleinen Krankenzimmer ruft er es aus dem Fenster. Amor in Gestalt seines androgynen Assistenten rät es ihm. Vielleicht ein Fiebertraum des unter Schock stehenden Hinterbliebenen. Die ganze Höllenfahrt, Eurydikes Rückgewinnung, der erneute Verlust, vielleicht alles nur Wahnvorstellungen eines Heilungsbedürftigen, der mit Eurydikes Schal einmal kurz vorm Selbstmord steht, zugleich aber Visionen eines Werks, in das sich die eigene Schmerzerfahrung und die Therapie verwandeln.
    Ein paar Buhs und viele Bravos
    Aber die lila und grünen Scherpenkostüme im Schlussballett wirken misslich, so fröhlich hier aus flinken Übergängen von liegenden Figuren zu Drehsprüngen die Auferstehung gefeiert werden mag. Dmitry Korchak muss als Orpheus erst warmwerden, sein Tenor klingt anfangs zur Höhe hin gepresst, hat keine Pianokultur, bewährt sich im zweiten Teil allerdings mit kräftigen Tönen. Andriana Chuchman wartet als Eurydike mit weichem Sopran auf. Aber den größten Glanz verbreitet Marie-Sophie Pollak als Amor mit ihren hell funkelnden Soprantönen. Alessandro De Marchi dirigiert das Philharmonische Staatsorchester sorgfältig, besonders die elysische Lyrik gelingt fein. Die Chöre dräuen aus dem Graben. Am Ende reichlich Applaus, für Neumeier ein paar Buhs und viele Bravos.