Welttheater-Akrobatik statt Politik: So werden einer kritischen Oper die Zähne gezogen

Mit «Karl V.» von Ernst Krenek hatte in München ein seit langem sträflich vernachlässigtes Hauptwerk des modernen Musiktheaters Premiere. Die Neuproduktion mit La Fura dels Baus ist ein Spektakel – mit überragender Musik.

Marco Frei, München
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Schöne Bilder statt Deutung: Bo Skovhus (links) als Karl V. mit Ensemble, Chor und Opernballett der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Schöne Bilder statt Deutung: Bo Skovhus (links) als Karl V. mit Ensemble, Chor und Opernballett der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Diesmal turnt die Truppe auch zwischen den Zuschauern herum, steigt gebeugt über Sitze und Armlehnen. Eine Masse wird zur kriechenden Bestie. Am Ende steht der Mob bedrohlich nah vor der Rampe, mit grimmigen Fratzen: «Plus ultra», brüllt es lautstark durch das Münchner Nationaltheater. Die Lichter erlöschen, den Rest darf man sich denken. Dies sind die vielleicht stärksten Einfälle einer Regie, die sonst wenig zu sagen hat. Es sind einmal mehr kunterbunte Bilder, die Carlus Padrissa mit seiner Truppe La Fura dels Baus bedient, diesmal bei der Neuinszenierung von «Karl V.» von Ernst Krenek im Münchner Nationaltheater.

Eine effektreiche Turnshow ist herausgekommen, was offenkundig prompt den gewünschten PR-Erfolg eingebracht hat. Jedenfalls wurde noch vor der Premiere ein Wikipedia-Eintrag zu Kreneks 1933 entstandenem «Bühnenwerk mit Musik» mit Fotos dieser neuen Münchner Produktion dekoriert. Um eine konzise Deutung des Stoffes geht es bei der Produktion nicht, und wer Padrissa und seine Truppe aus Katalonien engagiert, kann dies auch nicht erwarten. Dass Padrissa jetzt ausgerechnet dieses ebenso komplexe wie politisch hochbrisante Stück inszenierte, verrät viel über die vorherrschende Bühnenästhetik an der Bayerischen Staatsoper.

Bilderflut mit Showeffekten

Mit dieser an sich verdienstvollen Neuinszenierung, fast elf Jahre nach der szenischen Wiederentdeckung bei den Bregenzer Festspielen 2008, sollte eine vernachlässigte Rarität erneut auf die Bühne zurückgebracht werden. Leider wurden dabei einem dezidiert zeitkritischen Werk die Zähne gezogen, obwohl es eigentlich viel Aktuelles zu erzählen gäbe. Immerhin geht es um einen Kaiser, der mit dem Heiligen Römischen Reich frühzeitig ein vereintes Europa im Sinne hatte. Als zusehends Glaubenskriege und Nationalismen aufkeimen, geht dieses Weltreich unter. Für Krenek war dieser Stoff in den 1930er Jahren ein Spiegel seiner Zeit.

Welttheater am dünnen Seil: Szene aus «Karl V.» von Ernst Krenek an der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl)

Welttheater am dünnen Seil: Szene aus «Karl V.» von Ernst Krenek an der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl)

Die heutige Situation in Europa spricht nicht gerade dafür, dass aus den Ereignissen von einst nachhaltige Lehren gezogen wurden. Es ist also allerhöchste Zeit, diesem Werk von Krenek gebührend Raum zu schenken – zumal es für die Bühne keineswegs zu sperrig ist. Schon allein die Musik entwickelt einen hochdramatischen, überaus klangsinnlichen Sog, der seine Wirkung nicht verfehlt. Mit dieser Partitur hat Krenek nebenbei das erste grosse Musiktheaterwerk in Zwölftontechnik realisiert, allerdings frei von verkopftem Regelwerk und raffinierten Rechenspielen.

Alles glüht und brennt in dieser Tonsprache, ringt um aufrichtigen Ausdruck und zugleich aufgeklärten Anspruch. Selbst die gesprochenen Texte behindern keineswegs die Bühne, sondern erfüllen schlüssig einen ganz zentralen Sinn – dramaturgisch und psychologisch. Sie führen nicht bloss zu einer aufschlussreichen Reibung zwischen Geschichte und Gegenwart, sondern bilden eine kritische Distanz zum Bühnengeschehen heraus. Deshalb wird die Sprechrolle des Mönchs, dem sich Karl V. für eine Lebensbeichte anvertraut, zum «Sprachrohr einer modernen Zuhörerschaft», so Krenek selbst.

Dieses epische Stilmittel ist vom Brecht-Theater bestens bekannt. Krenek selber benannte das Schauspiel «Das Buch von Christoph Columbus» von Paul Claudel als zentrales Vorbild für sein Verfahren; das Stück wurde im Mai 1930 in Berlin uraufgeführt, als szenisches Oratorium mit der Musik von Darius Milhaud. In München wurde jetzt der Mönch von Janus Torp gesprochen. Die Stimmen von Gott und Papst, Kardinal und Kurfürst wurden von der «Tatort»-Schauspielerin Mechthild Grossmann aus dem Off zugespielt. Die Aufzählung der zahllosen Titel von Karl V., mit der die Münchner Premiere begann, stammt nicht von Krenek, sondern vom Regieteam – ein entbehrlicher Einfall.

Sonst aber können die Sprechtexte von Krenek helfen, die Handlung zu lenken und theatralisch zu verdichten – wenn freilich die Regie den Stoff interpretieren würde. In der Bilderflut von Padrissa gibt es dafür keinen Platz. So hat Lita Cabellut bizarre Kostüme entworfen, in denen die Solisten wahlweise wie Punker oder Aliens aussehen. Mit dieser «kosmischen Note» soll wohl daran erinnert werden, dass hier ein Kaiser um eine Weltanschauung ringt. Passend hierzu formen Statisten in luftiger Höhe mit ihren Körpern eine Weltkugel, aus der bald zu Beginn des Spektakels Wasser auf den Theaterboden niederprasselt.

Ein Weltreich geht hier gewissermassen baden, und fortan wird auf der Bühne eifrig geplantscht. Das alles wird mit Feuereffekten garniert, und wenn im Hintergrund nicht Tizians «Jüngstes Gericht» prangen würde – ganz so wie von Krenek gefordert –, bliebe der Ernst der Lage komplett verborgen. In diesem Höllenzirkus lebt alles von den famosen Solisten und dem überragenden Bayerischen Staatsorchester. Ihnen ist ein bleibendes Grossereignis gelungen, nicht zuletzt dank der durchwegs stupenden Leitung von Erik Nielsen.

Aktuelle Charakterstudie

Nielsen, ehedem Musikdirektor am Theater Basel und häufiger Gast beim Ensemble Modern, erreicht eine transparente Farbenpracht, die es mühelos mit dem mustergültigen, auf CD dokumentierten Dirigat von Gerd Albrecht bei den Salzburger Festspielen 1980 aufnehmen kann. Von dieser Durchhörbarkeit profitierten die Stimmen: Ob Michael Kraus als strenger Luther, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Franzosenkönig Franz, Okka von der Damerau als Kaiser-Mutter Juana, Gun-Brit Barkmin als dessen Schwester Eleonore oder Anne Schwanewilms als Kaiserin – sie alle geben ihren Rollen, über das Vokale hinaus, ein echtes Profil.

Genau diese Plastizität in der Personenführung und Figurenzeichnung bleibt die Regie leider schuldig. Gleichwohl überragend wirkt Bo Skovhus in der Titelpartie. Der dänische Bariton glänzt als veritabler Charakterdarsteller: Sein Karl V. hadert glaubwürdig mit sich und der Welt – eine packende, einnehmende Persönlichkeitsstudie, die zugleich die ungeheure Aktualität des Stoffes offenbart. Padrissas Produktion hat diesen Joker leider verspielt, trotzdem gab es am Ende auch für das Regieteam stürmischen Beifall, ganz ohne Buhrufe.

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