Die Handlung von Karol Szymanowskis Oper Król Roger, die im Jahr 1926 in Warschau ihre Uraufführung hatte, ist schnell erzählt: Während der Karfreitagsmesse fleht der Klerus den König an, die christlichen Sitten vor einem fremden Hirten zu schützen, der mit seinen Reden das Volk verführe. Roger will ihn verurteilen, seine Frau Roxane setzt sich aber für den Fremden ein und schließlich befiehlt Roger dem Hirten, abends im Palast zu erscheinen, um auf das königliche Urteil zu warten. Dort beschreibt der Hirte seinen Glauben enthusiastisch, bald folgt ihm der gesamte Hof zu einem ekstatischen Tanz und auch Roger entschließt sich, als Pilger dem Hirten zu folgen. In den Ruinen eines alten griechischen Theaters begegnet Roger später in einer traumartigen Sequenz Roxane und dem Hirten wieder; in der finalen Szene begrüßt Roger schließlich den anbrechenden Tag mit einer Hymne an die aufgehende Sonne.

Komponiert hat Karol Szymanowski das Werk in den Jahren 1918 bis 1924; Jahre, die für ihn höchst turbulent waren – in Folge der Oktoberrevolution wurde das Landgut seiner Familie zerstört, er musste emigrieren und zog sich auch geistig in sich selbst zurück. Ein weiterer Aspekt der Lebensgeschichte des Komponisten, der maßgeblich eingeflossen ist, war seine Homosexualität, wegen der er im streng katholischen Polen der damaligen Zeit stark (auch mit sich selbst) zu kämpfen hatte. So brodeln auch in Król Roger unter der Oberfläche eine ganze Menge an inneren Konflikten, es ist die Geschichte einer Selbstsuche und -findung.

Regisseur Holger Müller-Brandes versucht in seiner Inszenierung an der Oper Graz, besonders diese psychischen Vorgänge sichtbar zu machen, anstatt die äußere Handlung zu bebildern. So soll der Chor etwa die widerstreitenden Stimmen in Rogers Innerem symbolisieren und wenn im dritten Akt die goldene Fläche von Erde überzogen ist, wird klar, dass die anfänglichen Symbole der Macht dieses Königs im wahrsten Sinne des Wortes begraben wurden. Und auch die von Ballettchefin Beate Vollack choreographierten Tanzsequenzen versinnbildlichen das unterschwellig Brodelnde des Charakters. Da ich bereits im Vorhinein die Chance zu einem Gespräch mit Müller-Brandes hatte, war seine szenische Umsetzung für mich am Premierenabend überaus klar und stringent; ob ich auch ohne jegliche Hintergrundinformation diesen Eindruck gehabt hätte, vermag ich nicht zu beurteilen. In jedem Fall bieten das schräge, in Gold gehaltene Bühnenbild und die reduzierten Kostüme von Katrin Lea Tag sowie das Lichtdesign von Sebastian Alphons starke Bilder, die ebenso mystisch und rauschhaft sind, wie Szymanowskis Musik, die beim designierten Chefdirigenten Roland Kluttig in besten Händen lag.

Kluttig erwies sich – nach der grandiosen Leitung von Ariane et Barbe-Bleue in der letzten Saison – erneut als Spezialist für die feinen Zwischentöne und die Vielschichtigkeit von Partituren des frühen 20. Jahrhunderts. So brachte er einerseits die bunt schillernden und andererseits die abgründig harschen Facetten in diesem Psychospiel zum Klingen und machte dadurch deutlich, dass jede Note Ausdruck eines inneren Vorgangs dieses sinnsuchenden Königs ist. Das Orchester setzte diese Lesart hochkonzentriert und präzise um und brachte Szymanowskis Klangwelten, die byzantinische, orthodoxe und orientalische Einflüsse vereinen, zum Funkeln. Ebenso vorzüglich agierte der Chor, der streng genommen die fünfte Hauptrolle an diesem Abend spielte und durch Marijana Grabovacs Diakonissin und Wilfried Zelinkas Erzbischof ergänzt wurde. Wie etwa aus dem Off im ersten Akt die beinahe oratorienhaften Passagen überirdisch ertönten und den ganzen Abend über die Chorpassagen klangschön an- und abschwollen, das war ganz großes Kino.

Den mit sich selbst kämpfenden Roger gestaltete Kay Stiefermann (er sprang für Markus Butter, der sich einer Knieoperation unterziehen musste, ein) eindringlich und intensiv sowohl in darstellerischer als auch in gesanglicher Hinsicht. Sein Bariton strömte durch die Partie, die Stimme verfügt über einen metallischen Kern und brachte so genug Kraft für dramatische Ausbrüche mit, konnte aber auch mit Zartheit in sanften Phrasen aufwarten. Als Gegenpol zu Roger fungierte der Hirt von Andrzej Lampert, der mit hellem, lyrischen Tenor für die sphärischen Klänge zuständig war. Als einziger Polnisch-Muttersprachler der Besetzung hatte er natürlich einen Startvorteil und konnte sich dadurch voll und ganz auf die Gestaltung des charismatischen Predigers konzentrieren. Hatte er in seiner ersten Szene noch damit zu kämpfen, gegen das Orchester anzukommen, sang er sich in Folge frei und verlieh der Figur optisch und vokal Glanz. Stimmlich souverän und schauspielerisch über der Zerrissenheit des Titelhelden stehend stattete Manuel von Senden den Berater Edrisi mit seinem Charaktertenor aus und gab eine Art Reiseleiter auf der Fahrt ins Innere der Seele. Aurelia Florian war eine entrückte Königin Roxane; ihr warmes Timbre war dabei ideal für die Rolle, jedoch neigte die Stimme in den Piani dazu, etwas zu flackern, anstatt ebenmäßig zu schweben.

Es ist leider ein altbekanntes Problem, das die Oper Graz Saison für Saison ereilt, wenn Raritäten auf dem Spielplan stehen: Das Publikum zögert mit dem Kartenkauf. So war das Haus auch an diesem Premierenabend deutlich spärlicher besucht, als bei altbekannten Stücken. Hoffentlich können sich die GrazerInnen aber doch noch für diesen rauschhaften Król Roger begeistern; verdient hätten Werk und Umsetzung großes Publikumsinteresse!

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