Kirill Serebrennikow: Wie viel Tagespolitik verträgt die Oper?

Nach Mozarts «Così fan tutte» in Zürich legt der inhaftierte Regisseur Kirill Serebrennikow in Hamburg eine radikal gegenwartsbezogene Sicht auf Giuseppe Verdis Freiheitsoper «Nabucco» vor. Das Ergebnis tut weh – und not.

Marco Frei, Hamburg
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«Va, pensiero sull’ali dorate»: Der berühmte Gefangenenchor aus Verdis «Nabucco» erhält in Kirill Serebrennikows Hamburger Inszenierung durch die Einblendung von Bildern des Fotografen Sergey Ponomarev eine besondere Aussage. (Bild: Hamburgische Staatsoper)

«Va, pensiero sull’ali dorate»: Der berühmte Gefangenenchor aus Verdis «Nabucco» erhält in Kirill Serebrennikows Hamburger Inszenierung durch die Einblendung von Bildern des Fotografen Sergey Ponomarev eine besondere Aussage. (Bild: Hamburgische Staatsoper)

Der Hype um ihn ist gross, und der Medienrummel noch grösser. In den vergangenen anderthalb Jahren ist Kirill Serebrennikow zu einer Galionsfigur der Kunstfreiheit avanciert. Denn seit Sommer 2017 ist der russische Regisseur in seiner Heimat unter Hausarrest gestellt. Ihm wird vorgeworfen, Subventionen veruntreut zu haben. Viele Beobachter sehen darin jedoch einen Vorwand, um einen Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin mundtot zu machen. «Free Kirill», lautet deshalb das Motto – jetzt auch in Hamburg.

Schon Ende Januar hatte das hiesige Thalia-Theater das Projekt «Who is Happy in Russia?» gezeigt, ein Gastspiel von Serebrennikows Gogol Center in Moskau; jetzt folgte die Neuinszenierung von Giuseppe Verdis «Nabucco» an der Hamburgischen Staatsoper. Weil Serebrennikow nicht persönlich zum Inszenieren an die Elbe kommen konnte und auch in seiner Kommunikation stark eingeschränkt wird, mussten – wie zuletzt bei Mozarts «Così fan tutte» am Opernhaus Zürich – über Serebrennikows Anwalt Videobotschaften via USB-Stick ausgetauscht werden. In Hamburg haben der Co-Regisseur Jewgeni Kulagin, der schon die Zürcher «Così» auf die Bühne brachte, sowie Sergio Morabito, der frühere Chefdramaturg der Oper Stuttgart, die Arbeit betreut.

Herrschafts- und Weltspiel

Natürlich verkauft sich diese Geschichte exzellent. Schnell entsteht der Eindruck, dass die Theater auf einen PR-trächtigen Zug aufspringen, um von der medialen Aufmerksamkeit der «Causa Serebrennikow» zu profitieren. Tatsächlich waren in Hamburg bereits vor der Premiere alle Vorstellungen ausverkauft, und der Vorverkauf für die Serie im Herbst wurde vorzeitig gestartet. Dieser Erfolg kann Misstrauen wecken, aber: Wie schon bei der Zürcher «Così»-Produktion wurde Serebrennikow auch von der Hamburger Staatsoper bereits 2016 eingeladen, also lange vor der Verhaftung. Diese erfolgte 2017, inmitten der Endphase zur Inszenierung von Humperdinks «Hänsel und Gretel» in Stuttgart.

Vor dem Uno-Sicherheitsrat haben Despoten wie Nabucco (Dimitri Platanias) gut reden – draussen sterben die Menschen trotzdem an den Folgen ihrer Politik. (Bild: Hamburgische Staatsoper)

Vor dem Uno-Sicherheitsrat haben Despoten wie Nabucco (Dimitri Platanias) gut reden – draussen sterben die Menschen trotzdem an den Folgen ihrer Politik. (Bild: Hamburgische Staatsoper)

Wichtiger ist freilich: Serebrennikow macht kein Agitationstheater: Er provoziert nicht einfach, um propagandistisch auf seinen Fall aufmerksam zu machen. Dafür nimmt Serebrennikow die Werke und die Welt viel zu ernst, so auch jetzt in Hamburg. Sein «Nabucco» spielt bei den Vereinten Nationen, konkret im Sitzungssaal des Sicherheitsrats und in einigen angrenzenden Büros. Hier wird um eine «neue» (also leider altbekannte) Weltordnung gestritten, wobei sich die Kontrahenten unversöhnlich gegenüberstehen. Aus Nabucco, dargestellt von Dmitri Platanias, wird ein assyrischer Autokrat, der an den syrischen Machthaber Bashar Hafiz al-Asad erinnert.

Mit seiner Losung «Assyria first» und der Partei «Einiges Assyrien» ist Serebrennikows Nabucco faktisch ein Doppelporträt von Donald Trump und Putin. Sein Gegenpart ist der Zaccaria von Alexander Vinogradov – ein strikter Gegner von Nationalismus und Befürworter von Multilateralismus. Seine engsten Mitarbeiter sind der Ismaele von Dovlet Nurgeldiyev und die Anna von Na’ama Schulman. Fenena, die Lieblingstochter Nabuccos, gesungen von Géraldine Chauvet, bemüht sich um einen Ausgleich – ganz anders die Abigaille von Oksana Dyka. Sie trägt die aggressive Politik ihres Vaters Nabucco mit, um selbst an die Macht zu kommen.

In diesem abgründigen Herrschafts- und Weltspiel dreht sich alles um die Flüchtlingsthematik. Während Zaccaria eine Integration anstrebt, setzt Nabucco auf Abschottung und gewaltvolle Internierung. Passend zum Flüchtlingsthema werden Ausschnitte von Fernsehnachrichten eingeblendet samt griffigen Schlagzeilen. Zwischen den Akten gibt es überdies Fotografien des russischen Journalisten Sergey Ponomarev zu sehen, die das kriegszerstörte Syrien und die Massenflucht nach Europa dokumentieren.

Wer die Macht hat, will allzu gern auch gleich bestimmen, was die Wahrheit ist: Abigaille (Oksana Dyka) beherrscht das zynische Spiel mit den Medien. (Bild: Hamburgische Staatsoper)

Wer die Macht hat, will allzu gern auch gleich bestimmen, was die Wahrheit ist: Abigaille (Oksana Dyka) beherrscht das zynische Spiel mit den Medien. (Bild: Hamburgische Staatsoper)

Diese Interpolation wird musikalisch unterstützt, und zwar durch Melodien aus Syrien, die von der Sängerin Hana Alkourbah sowie Abed Harsony auf der orientalischen Kurzhalslaute Oud eindrucksvoll dargeboten werden. Während weinende Kinder zu sehen sind oder überfüllte Flüchtlingsboote und blutüberströmte Menschen in Trümmerwüsten, wird in den Liedern der Verlust der Heimat besungen. Einigen wenigen ging das an der Premiere zu weit. «Aufhören!», brüllte ein Mann, bevor er türenschlagend die Staatsoper verliess. Ein anderer schimpfte, dass er die Bilder aus den Nachrichten kenne.

Zeitkritik mit Um-ta-ta

An der Premiere wurden diese lauten Einzelstimmen von frenetischem Beifall überdeckt. Diese (vorhersehbaren) Reaktionen zeigten indes, wie sehr es die Inszenierung geschafft hat, auch die Polarisierungen in unseren Gesellschaften aufzuzeigen: Die Flüchtlingsthematik ist und bleibt ein Dauerthema, höchst kontrovers und konfliktgeladen. Bei Serebrennikow wiederholt schliesslich ein Laienchor aus Emigranten den berühmten Gefangenenchor. «Oh, mein Vaterland, so schön und verloren!», lautet dessen Text. Aus dem Munde dieser Amateursänger wird vollends klar, wie sehr Serebrennikow die originäre Intention Verdis im Sinn hat.

Mit seinem «Nabucco» wollte Verdi nämlich keineswegs einfach einen biblischen Stoff vertonen; er verknüpfte vielmehr das Schicksal der Hebräer mit demjenigen Italiens zu seiner Zeit. Im Risorgimento avancierte der Gefangenenchor schliesslich zu einer geheimen Hymne des italienischen Volkes. Die Frage eines aufgebrachten Besuchers an der Premiere, was Serebrennikows Inszenierung mit Verdi zu tun habe, ist obsolet. Ein Problem waren allenfalls die gesanglichen Leistungen der Solisten sowie des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Unter der allzu handfest-direkten Leitung von Paolo Carignani wurde so manches Verdi-Klischee bedient, überbreit und mit reichlich «Um-ta-ta». Das blieb stilistisch und künstlerisch weit zurück hinter dem Anspruch von Serebrennikows mutiger und profilierter Regie.

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