Tschaikowsky: Seine beste Oper ist leider vergessen. Jetzt brilliert sie in Lyon

Peter Tschaikowsky hielt «Die Zauberin» nachweislich für sein vorzüglichstes Bühnenstück – doch gerade dieses Werk geriet in Vergessenheit. In Lyon kommt es nun zu seinem Recht.

Eleonore Büning, Lyon
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In der Opéra de Lyon fand sich das Publikum am Ende so wieder, wie es Tschaikowskys prophezeit hatte: atemlos, sprachlos, in Tränen. (Bild: PD)

In der Opéra de Lyon fand sich das Publikum am Ende so wieder, wie es Tschaikowskys prophezeit hatte: atemlos, sprachlos, in Tränen. (Bild: PD)

Verschwindet ein grosses Kunstwerk vom Radar der Rezeptionsgeschichte, gibt es dafür meist einen guten Grund. Aber was steckt dahinter, wenn es eines Tages wieder auftaucht? Im Fall von Peter Tschaikowskys Oper «Charodeika» – zu Deutsch: «Die Zauberin» –, die er selbst für seine beste hielt, wirft Ersteres immer noch Fragen auf. Doch Letzteres ist leicht zu erklären.

Alle Argumente, die es dazu braucht, lieferte dieser Tage das Opernhaus in Lyon mit seinem alljährlichen Frühlingsfest, das zum Auftakt eine epochemachende Neuproduktion der «Zauberin» präsentierte: in der phantastisch surrealen, über alle Stränge schlagenden Bildersprache des Theaterregisseurs Andriy Zholdak.

Nach knapp vier Stunden voller Wunder und Rätsel, nach einer finalen Sturmmusik mit herzzerbrechender Wahnsinnsszene, fanden wir uns überrascht genau so wieder, wie der Komponist es einst in einem Brief an seine Primadonna Emilia Paplovskaia prophezeit hatte: atemlos, sprachlos, das halbe Publikum in Tränen.

Vernichtende Presse 1887

Die Uraufführung im Oktober 1887 in Sankt Petersburg verlief anders als erwartet. Die Reaktion der Zuhörerschaft blieb höflich, die der Presse geriet vernichtend. Mag sein, dass Russlands Aristokraten, bei aller Frankophilie, doch noch nicht reif für eine Tragödie um eine Frau aus der Unterschicht waren.

Entstanden zwischen Manfred-Symphonie und «Eugen Onegin», rührte die «Zauberin», nach einem Libretto von Ippolit Shpazhinski, weder an heroische noch an historisch-nationale Interessen. Tschaikowsky weigerte sich, das Stück zu kürzen und zu überarbeiten, um Folgeaufführungen zu ermöglichen. So kam es nur zu einer einzigen Reprise, drei Jahre später, in Moskau. Und erst in allerjüngster Zeit wird das Stück auch ausserhalb Russlands als Rarität geboten, in grossen, aber kürzer werdenden Abständen: 1954 in Bremen, 2011 in Antwerpen, in der Regie von Tatjana Gürbaca, 2014 in Wien. Für Lyon sicherte Intendant Serge Dorny, der bereits 2010 eine Trilogie der Puschkin-Opern Tschaikowskys mit Peter Stein im Programm hatte, jetzt die französische Erstaufführung.

Erzählt wird eine Pretty-Woman-Geschichte: die uralte Männerphantasie von dem sogenannten leichten Mädchen, dem die wahre Liebe begegnet. Doch anders als Giuseppe Verdi und sein Librettist Piave gönnen Tschaikowsky und Shpazhinski ihrer Traviata nicht die Gloriole der Verklärung. Sie stirbt nicht an Schwindsucht, sie wird heimtückisch ermordet, als Folge einer Verbindung niedrigster Instinkte in einer brutal realistisch gezeichneten Umgebung. Das arme Volk, die reiche Gouverneursfamilie, sie alle sind in dieser Unterdrückungsgesellschaft gleichermassen verstrickt in die alltäglichen Todsünden, als da sind: Neid, Wollust, Völlerei, Hochmut, Zorn.

Fünfzehn solistische Sängerpartien gibt es in dem Stück, in herrlich wilden Chor-Tableaus sowie fünf- bis achtstimmigen Ensembles. Nastasja selbst, die Projektionsfläche der Begierden, genannt Kuma, wandelt durch diese Wirren wie eine Unberührbare.

Der Prinz entsteigt dem Kleiderschrank

In der Lesart Zholdaks hat diese Frau eine eigentümlich moderne Aura. Sie ist stark, klar und selbstbewusst. Ihr Wirtshaus an der Oka mit angeschlossenem Bordell führt sie in Nischni Nowgorod auf eigne Faust. In ihrer kurzen, harfenumspielten Auftrittsarie besingt sie die Träume aller von einem besseren Leben im Falschen (das utopieselige Lied der Kuma war schon in der Ouvertüre zitiert worden) – und verliert sich, als sie auf ihren Tenorprinzen trifft, unverzüglich in vokale Höhenflüge.

Endliche eine satisfaktionsfähige Inszenierung: «Die Zauberin» in Lyon. (Bild: PD)

Endliche eine satisfaktionsfähige Inszenierung: «Die Zauberin» in Lyon. (Bild: PD)

Kein Wunder! Dieser Prinz Youri entsteigt ganz in Weiss ihrem Kleiderschrank – wo alle Mädels bekanntlich ihre Prinzen aufbewahren. Er überschüttet sie, als sei sie das Sterntalermädchen, mit Goldstaub. Als die Liebenden dann später zusammenfinden, kurz und vergeblich, wie Tristan und Isolde, in einem hitverdächtig sich verströmenden Duett – Migran Agadzhanyan mit strahlend metallischer, fein geführter Stimme, Elena Guzeva mit dunkelrot blühendem, gleichwohl sternklar höhenstarkem Sopran –, gehen sie keineswegs gleich miteinander ins Bett. Sie schliessen erst einmal Blutsbrüderschaft: keusch und ehrlich, wie Winnetou und Old Shatterhand. Warum? Diese beiden sind die einzig Guten, weit und breit.

Es ist dies nur eines von vielen Zitaten aus dem öffentlichen Unterbewusstsein, die Zholdak in die Szenen hineinwürfelt. Er führt nicht nur Regie, er hat auch Licht und Ausstattung besorgt, und er liebt, wie er es bei Frank Castorf an der Berliner Schaubühne gelernt hat, die Simultanhandlung auf mehreren Schauplätzen. Vieles passiert gleichzeitig, eines greift ins andere. Es wird unmöglich, mit nur zwei Augen alles zu erfassen. Aber was immer man gerade erblickt, es ist stets ein Fundstück darunter, eine unerwartete Erkenntnis; und die passt jedes Mal auf neue Art und anders perfekt in den Malstrom der Musik.

Statisten wie Charakterschauspieler

Und nicht zuletzt ist Zholdak auch ein Virtuose der Personenführung: durchgearbeitet bis ins feinste Detail jeder Geste jeder Figur, selbst Statisten wirken wie Charakterschauspieler. Unmöglich, jeden Einzelnen namentlich zu nennen, dazu sind es zu viele. Bis in kleine Nebenrollen hinein wird idiomatisch präzise und meist auch sauber gesungen. Saftig und fliessend, mit Brio und Farbenpracht präsentieren sich Orchester und Chor der L’Opéra de Lyon unter der Leitung des jungen Generalmusikdirektors Daniele Rustioni.

Wie ein Riesenaltar öffnet sich die Bühne, dreiteilig, manchmal sogar vierteilig. Links das Schlafzimmer mit Ballettstange und wechselndem Kopulationspersonal, rechts das verschmuddelte russische Holzhäuschen, in dem Wodkaflaschen kreisen, gekokst, gezockt und politisiert wird, in dem es aber auch spuken kann und der Teufel persönlich den Samowar bedient. In der Mitte ein hoher Kirchenraum, mit Spitzbögen und einem Betstuhl, in dem Priester und Passanten allerhand Lasterhaftes treiben, worüber der Gekreuzigte wacht.

Freilich, auch der ist nur ein Requisit in diesen zeitlos desolaten politischen Verhältnissen. Gleich zu Anfang, noch während der Ouvertüre, hatte Mamyrov, der machiavellistische Sekretär des Gouverneurs, eine Kamera in dem hölzernen Christuskopf versteckt. Dieser Mamyrov alias Pjotr Micinski brilliert als ein höchst beweglicher Bass und glänzender Komödiant. Er ist der zentrale Strippenzieher der Tragödie, quasi das böse Prinzip: allgegenwärtig, jeden beobachtend, die Leute gegeneinander ausspielend. Anfangs nimmt er sich selbst als Gegenspieler bei einer Partie Schach. Am Ende, als alle ausser ihm tot sind, der Klagegesang verstummt ist und auch das Orchester schweigt, spielt Mamyrov, nach Blow-up-Manier, noch eine Runde Gespenstertennis.

Man muss das erlebt haben. Aber wie? Nach nur sieben Vorstellungen wird diese phänomenale «Zauberin» wieder abgespielt sein, noch ist kein Koproduktionspartner in Sicht. Bleibt zu hoffen, dass sie wenigstens aufgezeichnet wird. Denn bis heute gibt es keine satisfaktionsfähige CD oder DVD von Tschaikowskys «bester Oper» auf dem Markt.

«Dido and Aeneas»

Die Premiere des zweiten Festivaltags in Lyon hub so lustig an, als ginge es um das fällige Buffospiel zur Tragödie. Da buddelten Jupiter und Juno als Archäologen von gestern den digitalen Elektroschrott von heute aus dem Wüstensandkasten. Doch alsbald stellte sich heraus: mit Henry Purcells «Dido and Aeneas» hatte das gar nichts zu tun.

Regisseur David Marton wollte Purcells Semi-Opera nur zu abendfüllender Länge verhelfen, einerseits mit zeitgenössischer Jazzimprovisation unter Federführung des finnischen Gitarristen Kalle Kalima, andererseits mit interpolierten Sprechtexten von Virgil. Dazu verfolgten und verdoppelten Live-Kameras die bildungsbürgerlichen Aktionen der Sänger/Schauspieler, wie das eben zurzeit in Mode ist, was trotz besten Lyoner Kräften im Graben ziemlich schnell sehr langweilig wurde. Herausragend einzig der Auftritt der Diseuse Erika Stucky, die als Venus zugleich die Partie der drei Hexen übernahm, kreischend, knirschend, schaufelklappernd.