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Grausige Verführungsversuche

Opernsängerin (Evgenia Grekova) und Dichter (Uwe Stickert) auf der Suche nach Inspiration im Liebesleben.

So viel sei vorweggesagt: «Reigen» ist kein geeignetes Ersatzprogramm für jene, die diese Saison «Così fan tutte» oder «La Bohème» im Stadttheater Bern verpasst haben. Zwar finden sich auch im «Reigen» wirre Beziehungsgeschichten, Untreue und Verhältnisse emotionaler Abhängigkeit.

Da kommt aber gleichzeitig die geballte Ladung an Themen, die unsere gesellschaftlichen Abgründe prägen: Das Publikum wird Zeuge von Prostitution, Vergewaltigung, Drogenmissbrauch und sexuellen Handlungen mit Kindern.

Zehn Szenen, zehn gebrochene Tabus, zehn verschiedene Konstellationen von Mann und Frau, jede aus ihren ganz eigenen Gründen zum Scheitern verurteilt. Man stelle sich vor, welchen Skandal Schnitzler Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Dialogen auslöste. Nach nur wenigen Aufführungen und einem Gerichtsprozess war er es selbst, der dem «Reigen» ein Aufführungsverbot auferlegte, das erst nach dem Tod des Autors wieder aufgehoben wurde.

Musikalischer Witz

1993 nahm der belgische Komponist Philippe Boesmans den Text als Grundlage für seine gleichnamige Oper. Wo die literarische Vorlage schweigt, übernimmt in der Oper die Musik und kommentiert, was auf der Bühne mal implizit, mal sehr explizit geschieht.

Boesmans' Musik ist dabei sehr klangmalerisch. Von metallischen Geigensoli (als Imitation einer summenden Mücke) über schnatternde Posaunen bis zu Duetten zwischen Saxofon und Klarinette gibt es alles.

Hie und da werden fünfsekündige Zitate von Bach, Strauss oder Wagner eingestreut. Diese sind jedoch immer so schnell wieder vorbei, dass sie einen jeweils leicht irritiert zurücklassen. Wie gut Boesmans' Musik vom Berner Symphonieorchester unter Kevin John Edusei einstudiert ist, lässt sich eigentlich nur an der humorvollen Leichtigkeit festmachen, mit der sich das Orchester durch das kurzatmige, eklektische Werk spielt.

Für die Sängerinnen und Sänger hält Boesmans' Musik keine grossen Arien oder Ensemblestellen bereit. Ein Beispiel soll genügen: Absurderweise ereignet sich die wohl schönste Duettszene zwischen dem übernächtigten jungen Grafen (Michal Marhold) und der Dirne (Orsolya Nyakas) und dauert kaum eine Minute. Marhold singt dabei wohlgemerkt in der Kopfstimme.

Irritation und Belustigung

Umso mehr Platz bleibt hingegen für das Schauspielerische, in dem das Ensemble absolut brilliert. Da sind der traumatisierte Soldat mit seinem Feuerzeug (Andries Cloete) und die Opernsängerin auf der Suche nach Dramapotenzial im eigenen Liebesleben (Evgenia Grekova); da sind der untreue Gatte (Jordan Shanahan) und der Dichter (Uwe Stickert), die einen mit ihren grausigen Verführungsversuchen dem jungen Mädchen gegenüber erschaudern lassen.

Die Solistinnen und Solisten scheuen sich nicht, die angesprochenen Tabuthemen auf die Bühne zu bringen. Das bringt das Publikum in eine interessante Zwickmühle: Beschämung und Irritation wechseln ab mit Belustigung. Mehrmals bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Man will ja nicht voyeuristisch sein!

Das Bühnenbild von Kathrin Frosch nimmt auf, wie surreal die Unfähigkeit des menschlichen Miteinanders sein kann. Über die Bühne zieht sich eine Reihe moosgrüner Sofas, stilistisch passend zur ausgebleichten Tapetenwand, die dem Ganzen als übergrosses Zimmer einen Rahmen gibt.

Bei jedem Szenenwechsel schiebt sich die endlose Sofakolonne quer über die Bühne und illustriert die Verknüpfung aller Szenen miteinander. Dies fördert wunderliche Bilder zutage – mal sitzt einer inmitten einer Kakteensammlung, mal liebkost sich ein älteres Paar neben einer Tuba, wenig später taumelt ein Eisbär in Stöckelschuhen über die Sofas.

Die Inszenierung ist vollgepackt mit Subtext, und das Tempo des Werks erlaubt es, viel davon zu erfassen. Mit Beleuchtungskonzept (Bernhard Bieri) und Kostümen (Justina Klimczyk) wird den Charakteren eine Szenerie geboten, die ihnen einen darstellerischen Tiefgang der zwischenmenschlichen Problematiken ermöglicht.

Vom geradlinigen Weg über die Sofas weichen die Protagonisten regelmässig ab, um sich auf dem gefluteten Bühnenboden nasse Füsse zu holen. Ihnen dabei zuzusehen, gibt höchstens etwas kalte Füsse – und vor allem ganz viel nachzudenken.

«Reigen»: bis 4.6., Stadttheater Bern.