Orest erzählt weiter, wo Elektra von Richard Strauss aufhört, und es zeigt sich auf wunderbare Weise, dass die Atridensage als Inspirationsquelle der Künstler noch lange nicht erschöpft ist. Verdichtet auf 80 Minuten, erleben wir an der Wiener Staatsoper das 2011 in Amsterdam uraufgeführte (und seither auch andernorts erfolgreiche) Werk als Musiktheater in sechs Szenen – als großes Musiktheater, das vom Publikum auch entsprechend gewürdigt wird.

Schon die erste Szene ist packend: Aus dem Off hört man Klytämnestras markerschütternden Todesschrei, gefolgt von Frauenstimmen, die vielfach „Orest!“ rufen. Das könnten Erynnien sein, aber viel eher spielen sich die sirenenhaften Rufe im Kopf des Muttermörders ab. Geprägt wird diese Eröffnung durch den Todeston H (Maries Ermordung durch Wozzeck), der aber auch Schuberts Irrlicht und Wagners reitende Walküren (als Grundton von h-Moll) zwischen Himmel und Erde verortet. Da hat Trojahn binnen weniger Takte schon ein ganzes Szenario entworfen – dafür allein gebührt schon Respekt, doch kann man an seinem Orest noch viel mehr loben.

Fühlt man sich an Strauss‘ Elektra erinnert? Ja und nein: Ähnlich ist in beiden Werken der virtuose Umgang mit harten rhythmischen Akzenten, und in beiden werden Befindlichkeiten mit kleinen musikalischen Motiven transportiert. Allerdings ist Trojahn kein Stilkopist, sondern hat seine eigene musikalischen Ausdrucksweise gefunden, und die richtigen Worte in seinem eigenen Libretto gleich dazu. Darin bedient er sich einer wunderschönen, auf Hoffmannsthal, Euripides und Nietzsches Dithyramben gebauten Kunstsprache, in der er die Geschichte nach Klytämnestras Ermordung weiterspinnt – zwar mit alternativen Fakten (wenn man die griechische Mythologie als Ausgangspunkt nimmt), aber schlüssig und mit Gespür für die dramatische Wirkung.

In seiner Geschichte ist und bleibt Elektra (fabelhaft gesungen von Evelyn Herlitzius) unsere böse alte Bekannte: eine unversöhnliche Furie, worüber sie uns auch mit einem sanften Schlaflied für Orest nicht hinwegtäuscht. Im Gegensatz dazu erfährt Orest eine Entwicklung, die in seiner Emanzipation von Elektras Todesfantasien und auch in der Emanzipation von den Göttern mündet (schließlich hat er den Auftrag zum Muttermord zur Rache des Vaters von Apollo empfangen). Nun, in diesem Werk, erklärt sich Apollo aber für nicht zuständig, als Orest der Tod durch Steinigung durch das Volk droht. Zunächst nur potenzielle Gefahr, entpuppt sich diese im sechsten Bild als reale, wenn die Orest-Rufe aus der ersten Szene von Männerstimmen gespiegelt werden, und Steine aus dem Bühnenhintergrund geworfen werden.

Für die Darstellung des Apollo hat Trojahn auf Nietzsches Idee zurückgegriffen, Apollo und Dionysos als komplementäre Aspekte einer Gottheit darzustellen. Schade nur, dass Daniel Johansson die Anstrengung dieser Partie deutlich anzumerken war – für ein Hausdebüt nicht die beste Wahl. Menelaos (absolut rollendeckend: Thomas Ebenstein) ist ein Politiker, für den es nicht opportun ist, seinen Neffen Orest vor dem Volkszorn zu retten. Auch beschäftigt ihn die Rückkehr seiner Ex Helena, die einen Auftritt hinlegt, als würde sie gleich „Happy Birthday, Mr. President“ flöten wollen. Dazu hat sie auch ein hübsches Präsent (eine Opfergabe) für das Grab ihrer Halbschwester Klytämnestra mitgebracht. Dass sie ausgerechnet Elektra bittet, besagtes Grab damit zu schmücken, wirkt wie ein mythologisch verbrämter Blondinenwitz, der sich bitter rächen wird: Einmal noch wird Orest in Elektras Auftrag töten, bevor er aus der Gewaltspirale des Atridenfluchs ausbricht.

Zum Glück für Helena hat Dionysos aber Gefallen an ihr gefunden, und zieht die Erschlagene zu sich in den Himmel. Ihre Tochter Hermione, eben noch in Trauer um die Mutter, macht sich mit Orest davon. Dieses schöne, reine Wesen konnte er nicht töten, und auch sie scheint von dieser schicksalhaften Begegnung gefesselt. Seiner Schuld entkommt Orest nicht, aber immerhin verlässt er den Teufelskreis rund um Elektra und ignoriert Apollos Auftrag, über die Stadt patriarchalisch zu herrschen. Wohin er mit Hermione gehen wird, wissen wir nicht, aber er geht mit Selbstbestimmung.

In der Partie des Orest kann man leicht glänzen, wenn man schauspielerisches Talent wie Thomas Johannes Mayer hat, und souveräne Stimmbeherrschung dazu. Damit glänzten auch Laura Aikin als Helena und Audrey Luna. Letztere hat schon in Thomas Adès The Tempest in Höhen singen kann, die manche nicht einmal quietschen können (wenn man an Trojahns Oper etwas kritisieren kann, dann die Überbeanspruchung der menschlichen Stimme).

Das Geschehen entrollt sich in einem Bühnenbild von Marco Arturo Marelli, das von der Raumwirkung an das Innere eines riesigen Schneckenhauses erinnert und mit seiner angedeutete Spiralform den Strudel der Ereignisse widerspiegelt. Organisch ist hier aber nur der Schwung der Wände; ausgeführt sind sie, passend zum Thema, in grauer Betonoptik, verunziert mit Stockflecken und verblichenen Farbspuren (Blut wird wohl auch dabei sein). Alles wirkt durchdacht, und auch die Kinderschaukel, mit der Apollo/Dionysos durch ein Loch in der Decke zu verschwinden pflegt, kommt wohl nicht von Ungefähr, erinnert der Gott in seiner Ichbezogenheit doch an ein verwöhntes, aber willensstarkes Kind.

Das Staatsopernorchester spielt Zeitgenössisches nur alle heiligen Zeiten, aber wenn, dann mit Hingabe. Michael Boder dirigierte ambitioniert und widerstand Versuchungen, das emotional und musikalisch kraftvolle Werk überlaut werden zu lassen.

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