Von einem „Buh-Orkan” berichteten viele Rezensionen nach der Premiere von Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und auf der Facebookseite der Oper Graz wurde leidenschatlich diskutiert. In der besuchten Vorstellung, der mittlerweile vierten der Aufführungsserie, erschließt sich der Grund des Aufruhrs jedoch nicht. Denn die Inszenierung von Verena Stoiber in einem Bühnenbild von Sophia Schneider bietet zwar viel Blut und auch nackte Haut (die man sich getrost hätte sparen können), ist aber durchwegs spannend, stringent und... so gar nicht skandalös.

Die Regisseurin verlegt die Handlung in ein sogenanntes Operation Theatre des fin de siècle; in der Zeit des rasanten medizinischen Fortschritts wurden in diesen amphitheaterartigen Lehrsälen Behandlungen bis hin zu Operationen durchgeführt. Enrico Ashton ist hier ein angesehener Arzt, der, um seine Forschung zu finanzieren, seine Schwester mit dem reichen Arturo verheiraten möchte. Blöderweise hat diese aber schon Edgardo, der in Enricos OP Medikamente mitgehen lässt, um das einfache Volk zu behandeln, ewige Treue geschworen. Und wie Fans von einschlägigen Krankenhausserien wissen, enden medizinische Dreiecksgeschichten selten glücklich.

Lucia erwartet in Stoibers Deutung überdies bereits ein Kind von Edgardo, weswegen Enrico seine Schwester kurzerhand betäubt und einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt, bevor er sie zur Hochzeit mit Arturo zwingt. Der Eingriff bringt jedoch Komplikationen mit sich und als Arturo in der Hochzeitsnacht Lucia an die Wäsche will, ist diese blutgetränkt; um zu vermeiden, dass er die Geschichte ausplaudert, ersticht Raimondo ihn und drückt der vom Blutverlust schon völlig geschwächten Lucia das Messer in die Hand. Blutüberströmt torkelt Lucia in ihr Delirium und stirbt schließlich am Blutverlust, gegen den auch Enrico machtlos ist – ein Jammer, dass noch niemand die Blutkonserven erfunden hatte! Edgardo darf sich schließlich noch, ganz librettogetreu, aus Verzweiflung erschießen, bevor der Vorhang fällt. Natürlich ist es gewagt, eine so radikal neue Sichtweise auf ein Werk zu präsentieren, aber in Stoibers Inszenierung funktioniert dieses Unterfangen ganz ausgezeichnet. Die Geschichte rund um Lucias Schwangerschaft ist plausibel und liefert auch gleich eine glaubwürdige Begründung ihres tödlichen Wahnsinns; ähnlich verhält es sich mit sämtlichen der Regiekniffe – sie alle fügen sich mit der Musik zu einem stimmigen Ganzen, arbeiten nie gegen Donizettis Komposition.

Dass nicht nur die Idee, sondern auch die Umsetzung funktionierte, war einer traumhaften Besetzung zu verdanken, die sich darstellerisch voll auf das Konzept einließ und sängerisches Weltklasseniveau in die steirische Landeshauptstadt brachte. In der Titelrolle glänzte Ana Durlovski, die es schaffte, die Lucia so sehr mit Leben und wahrhaftigen Emotionen zu füllen, wie man es bei Figuren in Opern des Belcanto selten erlebt. Ihre dunkel timbrierte Stimme ist nicht besonders groß, an einigen Stellen hätte ich mir etwas mehr dramatischen Nachdruck gewünscht. Dafür wird sie aber von Durlovski unheimlich klug und effektvoll eingesetzt und bewältigt Koloraturen sowie acuti mit einer beneidenswerten Lockerheit und Klangschönheit. In der Wahnsinnsarie entschwebte sie in Begleitung von Christa Schönfeldinger an der Glasharmonika in entrückte Sphären und ließ das Publikum kollektiv den Atem anhalten. An ihrer Seite liebte und litt Edgardo, verkörpert von Pavel Petrov, vokal ebenso beeindruckend. Er hat sich in den letzten Jahren im Ensemble kontinuierlich gesteigert und lässt mittlerweile keinen Zweifel mehr daran, warum er als einer der großen Nachwuchsstars der Branche gehandelt wird. Sein Tenor hat an Volumen gewonnen, dabei aber das schmelzende Timbre und die Feinheit des Klangs bewahrt und fließt scheinbar mühelos durch die Partie. Im Duett des ersten Akts verschmolzen die Stimmen von Durlovski und Petrov außerdem wunderschön und auch darstellerisch stimmte die Chemie.

Nicht als fiesen Bösewicht, sondern als nuancierten Karrieremenschen, der seinen Fehler zu spät erkennt und sich seiner Schuld dann schmerzlich bewusst ist, interpretierte Rodion Pogossov den Enrico. In der oberen Mittellage verströmt sein Bariton warmen Wohlklang und ist zu voller Attacke fähig, in tieferen Sphären wird die Stimme jedoch enger. Ähnliches lässt sich über Alexey Birkus sagen, der leider auch darstellerisch verhältnismäßig blass blieb. Die Sängerriege komplettierten Andrea Purtić als samtig timbrierte Alisa, Albert Memeti als selbstgefälliger Arturo mit hellem Tenor und Martin Fournier als intrigierender Normanno.

Einstudiert von Bernhard Schneider bot der Chor einmal mehr eine Lehrstunde an Spielfreude und gesanglicher Qualität. Die einzelnen Mitglieder wurden meisterhaft zu einem Klangkörper, der in vielschichtigen Abstufungen der Dynamik seine Stärken ausspielte. Aber nicht nur von der Bühne, auch aus dem Orchestergraben gab es Donizetti vom Feinsten zu genießen. Unter der Leitung von Andrea Sanguineti boten die Grazer Philharmoniker Leichtfüßiges und Schicksalsträchtiges – ein besonders großes Kompliment an die Hörner! – mit Liebe zu Klangdetails und Differenzierung. Ideal abgestimmt agierten die Musiker dank des Dirigenten mit den Sängern auf der Bühne und betteten die Stimmen betörend ein.

Woran sich das Premierenpublikum so gestört hatte, erschloss sich mir an diesem Abend bis zuletzt nicht; denn wer spannendes Musiktheater zu schätzen weiß und grandiose Sänger erleben möchte, die mit Stimme und Darstellung zu fesseln vermögen, darf diese Lucia di Lammermoor nicht verpassen.

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