Freunde eines schönen Operntodes – und das sind in einer Stadt, die Begräbnisse zu zelebrieren weiß, nicht wenige – lieben La bohème. Kommt dazu eine Neigung für klassische Inszenierungen (oder zumindest eine Abneigung gegen eine Mimì im Drogenmilieu, einen Rodolfo am Würstelstand o.ä.), sucht man alle Jahre wieder gern die Wiener Staatsoper auf: Dort bekommt man – bis auf wenige Ausnahmen – verlässlich, was man will. Für alle anderen, oder zumindest jene, die sich an der Zeffirelli-Inszenierung aus 1963 schon ein wenig sattgesehen haben (man schreibt die 434. Aufführung), ist ein internationaler Star ein guter Grund, sich wieder einmal von Liebe und Leiden mitreißen zu lassen.

Mit Bryan Hymel war jemand angesagt, für den der Karriere-Turbo zündete, als er 2012 für den erkrankten Jonas Kaufmann am Royal Opera House in Covent Garden einsprang, und zwar in keiner geringeren Rolle als Enée in Les Troyens. Wer in dieser schwierigen, kraftraubenden Partie einen absoluten Publikumsliebling wie Kaufmann vergessen macht, wird selbst einer. Seither pendelt Hymel zwischen den großen Häusern hin und her, wobei er in Wien allerdings nur einmal Station gemacht hat, 2014 in drei Aufführungen von Madama Butterfly. Nun also wieder Puccini, aber nicht als hassenswerter Pinkerton, sondern als Teil der süßesten boy-meets-girl-Geschichte der Opernliteratur.

Seinem Ruf als intensiver Gestalter wird dieser Rodolfo gerecht: Im ersten Akt sympathisch-verspielt wie wenige andere, und im letzten Akt ehrlich erschüttert, so wünscht man sich das. Leider hielt aber am besprochenen Abend sein Instrument nicht immer mit. Das robuste, aber doch warme Sehnsuchts-Timbre, von dem man sich im Internet und auf CD überzeugen kann, kam kaum ins Strömen; speziell im ersten Akt klang die Stimme in der mittleren Lage angestrengt, allerdings stemmte er seine Spitzentöne problemlos. Ab dem hohen B auf „chi son“, bevor sich Rodolfo als „poeta“ vorstellt, ging es besser, und bei „O soave fanciulla“ schien er völlig in seinem Element. Schade nur, dass damit das Schönste (oder zumindest Bekannteste) in dieser Partie schon vorbei ist. Man konstatiert, dass auch Startenöre nur Menschen sind, und wünscht ihm und dem Publikum für die nächsten Vorstellungen mehr von dem Stimmglück, von dem man an diesem Abend immerhin ein paar Kostproben bekam.

Seine Mimì war Olga Bezsmertna, die allerdings recht blass blieb. Wenn man den nicht ganz sauberen Spitzenton am Ende von „O soave fanciulla“ außer Acht lässt, tat sie brav das, was verlangt war, wusste sich aber, vom letzten Akt einmal abgesehen, kaum in Szene zu setzen. Würde man die Inszenierung nicht kennen, hätte man sie im Café Momus kaum wahrgenommen. Das lag aber vielleicht auch daran, dass sie mit Maria Nazarovas erster Musetta eine starke Konkurrentin hatte. Nazarova ist bekanntlich eine kleine, quirlige Koloratursopranistin und somit quasi die Antithese zum langbeinigen Vamp, als die Musetta gern besetzt wird, aber das machte vielleicht den besonderen Reiz ihrer Darstellung aus – wer kennt sie nicht, die weiblichen Feldwebel, die mit ihren Launen die Männer eisern im Griff haben? Oder die schlimmen Kinder, die die Mutter aus Überforderung gewähren lässt? Ja, so eine Musetta ist das. Wenn man noch dazu so kokett quietschen kann wie Nazarova (das wehe Füßchen!), dann vermisst man auch nicht den dunkel verruchten Unterton, den man mit dieser Partie gemeinhin assoziiert. Gelungen war auch ihr Beitrag zum letzten Akt, denn mit Kokettsein allein ist es bei Musetta nicht getan.

Der Rest schlug sich so wacker wie erwartbar: Wolfgang Bankl gab als Vermieter und Musettas Galan die Witzfigur, und Boaz Daniel einen ansprechenden Marcello. Ryan Speedo Green holte sich als Colline mit der Mantelarie Szenenapplaus ab, der an dem Abend ansonsten eher zögerlich gespendet wurde; auch bei Green war dieser eher der Emotion denn einer besonderen Gesangsleistung geschuldet. Manuel Walser komplettierte Rodolfos Freundeskreis und holte das Maximum aus dem Wenigen, das Schaunard gegeben ist, wie sich die Herren insgesamt sehr spielfreudig zeigten.

Spielfreudig gab sich auch das Staatsopernorchester unter Ramón Tebar, nachdem die ersten paar Takte eher hastig-verhuscht hingeworfen wurden. Im Überschwang der Musik wurde es manchmal etwas laut, und Mimìs Tod, der zwar immer deutlich, aber doch auf leisen Sohlen kommt, geriet sehr dramatisch. Das Publikum quittierte das mit besonders herzlichem Applaus und man resümiert: Wieder eine Mimì tot, aber die Wiener Bohème wohl noch lange nicht, auch wenn der verschneite Februarmorgen im dritten Akt buchstäblich nach Staub riecht…

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