Was für eine Szene! Da stehen die während Maos Kulturrevolution zum Tode Verurteilten in einer Reihe, vor der Brust hängen Schilder mit ihren Namen, die bereits ausgestrichen sind. Mao schreitet die Reihe ab wie bei einer Militärparade, und nach und nach fallen die Delinquenten tot um. Regisseur Marco Štorman hat hier im dritten Akt von John Adams' Oper Nixon in China die grausame Realität der Historie auf die Stuttgarter Bühne gebracht, was dringend nötig war nach den beiden ersten Akten, denn da wurde Mao von seinen Landsleuten und Parteigängern vor dem Präsidentenbesuch aus den USA gründlich verklärt. Damit greift Štorman ein wesentliches Element dieser Oper auf, die ja in den beiden ersten Akten vom Libretto her fast eine Chronik jener Tage im Jahr 1972 ist, in denen Präsident Nixon China besuchte.

Mit dem Verweis auf die grausame Seite von Maos Herrschaft bringt Štorman ein ungleich drastischeres Realitätsbild in die Oper ein, als Adams es tat. Andererseits hat er, als er sich für diese Szene entschied, genau in die Musik hineingehorcht, denn in diesem dritten Akt versucht die Oper einen Blick in die Psychen der Protagonisten. Da erinnern sich die Nixons an die ärmlichen Bedingungen ihrer ersten Ehejahre, da blicken Mao und seine Frau ein wenig wehmütig in die Zeit des heroischen Langen Marsches, als sie sich kennenlernten, und da räsoniert Chou En-lai über die Frage, ob denn tatsächlich alles, was sie, die Kommunisten unter Mao, getan hatten, gut gewesen sei. Jarrett Ott gestaltete diese vielleicht menschlichste Figur der Oper mit warmem Bariton lyrisch, eindrucksvoll, ohne große Gesten, aber sehr präsent. Demgegenüber verlieh Matthias Klink seinem Mao mit gelegentlich schneidendem Tenor genau die Härte, die nötig ist, um an die Spitze der Kommunistischen Partei zu gelangen und sie zu behaupten, unterstützt von seiner Frau, der Gan-ya Ben-gur Akselrod genau die Härte und Durchsetzungskraft verlieh, die diese Rolle verlangt.

Sängerisch ist diese Oper ein Glücksfall, denn jede der sechs Hauptrollen ist kongenial besetzt. Shigeo Ishino gelang es, die Beraterrolle von Henry Kissinger zurückhaltend und doch unüberseh- und -hörbar zu gestalten, Pat Nixon wurde von Katherine Manley lyrisch einfühlsam angelegt und Michael Mayes gelang das Kunststück, seinen Richard Nixon durchaus als Staatsmann vorzustellen, zugleich aber auch als Mann der Worthülsen und der Musicalfilme zu decouvrieren. Selten ist ein Solistensextett derart perfekt.

Und das gelang diesen Sängerdarstellern auch in den schauspielerisch sehr viel problematischeren ersten beiden Akten, denn hier hat Adams letztlich nicht viel mehr als eine große Show komponiert, die Štorman konsequent so auch umsetzt. Lediglich bei Pat Nixons Sightseeing-Tour im zweiten Akt hat seine Fantasie versagt. Da lässt er sie lediglich dekorativ posieren und von in silbrige Gewänder gekleideten Damen umgeben.

Der Showcharakter entspricht ganz der Musik, denn Librettistin Alice Goodman wollte zwar eine „heroische“ Oper schreiben, und heroisch geriert sich auch Nixon bei Štorman, als Showman, dem es mehr darauf ankommt, wie sein Besuch in den Medien erscheint, als auf die politische Botschaft, aber zugleich wird er durch seinen Gesang auch ironisiert, als Witzfigur entlarvt, die eher auf einem Rodeo oder in einem Musical à la Oklahoma zuhause ist denn auf dem seriösen politischen Parkett. Und auch Mao ist ironisch gebrochen, wenn er in makellosem weißen Anzug eher als Philosoph denn als Politiker wahrgenommen werden will, dabei aber nicht minder worthülsenhaft deklamiert als sein amerikanischer Gegenpart.

Adams hat für solche Charakterisierungen eine raffinierte Mischung aus Minimal Music im Orchester und großer Geste im Gesang komponiert, die sogar zitathaft Anleihen bei Händel und Richard Strauss macht. Dirigent André de Ridder arbeitete das rhythmisch brillant heraus, vermochte auch lyrische Passagen zu gestalten und führte die Sänger grandios. Das kann man im dritten Akt sogar beobachten, denn da lässt Štorman die Musik aus dem Lautsprecher ertönen, der Orchestergraben ist abgedeckt, die Figuren rücken so nah ans Publikum wie sonst nie im Opernhaus. Hier bricht Štorman nicht nur die Charakterisierung der Figuren ironisch wie in den vorangegangenen Akten, hier bricht er auch die Bühnenillusion, wenn der Dirigent neben den Sängern sitzt und dirigiert und die Souffleuse daneben ihre Arbeit macht. Damit entspricht Štorman der intimen Atmosphäre dieses Aktes. Ob dazu unbedingt zur musikalischen Konserve gegriffen werden musste, ist fraglich – einer der wenigen Einwände gegen einen Abend, der ganz aus dem Geist von Adams' Musik lebt.


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