Wenn das Auge des Elefanten bricht: Verdis «Otello» an den Osterfestspielen Baden-Baden

Robert Wilson und Zubin Mehta zeigen eine milde Lesart von Verdis abgründiger Shakespeare-Tragödie. Gegenwartsfragen klammert diese ästhetische Produktion ebenso aus wie eine am Festival uraufgeführte Oper über Clara Schumann.

Michael Stallknecht, Baden-Baden
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Die Welt gerät aus den Fugen, wo die Eifersucht regiert: Szene aus Robert Wilsons bildstarker Inszenierung von Verdis «Otello» im Festspielhaus Baden-Baden. (Bild: Lucie Jansch / Festspielhaus Baden-Baden)

Die Welt gerät aus den Fugen, wo die Eifersucht regiert: Szene aus Robert Wilsons bildstarker Inszenierung von Verdis «Otello» im Festspielhaus Baden-Baden. (Bild: Lucie Jansch / Festspielhaus Baden-Baden)

Wild pfeift der Wind über der Wüste, während das Auge des Elefanten bricht. Unendlich langsam sinkt er nieder, majestätisch noch im Sterben. Klar, der Elefant in der Video- und Tonsequenz, die Regisseur Robert Wilson als musikfreies Vorspiel zu «Otello» bei den Osterfestspielen Baden-Baden ersonnen hat, ist ein Symbol für den Titelhelden, den schwarzen Feldherrn, der hier langsam, aber sicher gefällt wird: stark, stolz, in eigener Würde ruhend, aber nicht vollkommen gezähmt in seiner Affektkontrolle – wie die Gesellschaft um ihn herum. Einer, den Jago nie im offenen Kampf besiegen könnte, aber den er zu erlegen vermag durch die Intrige, die sublimierte Waffe der zivilisierten Gesellschaft.

Auf den Elefanten wird Wilson in seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper allerdings nicht mehr zurückkommen, sobald der Dirigent Zubin Mehta im Graben des Baden-Badener Festspielhauses den Stab gehoben hat. Denn Otello ist kein sichtbarer Aussenseiter in dieser Produktion, wie es sich nach den Empörungswellen über das sogenannte Blackfacing inzwischen aus Gründen der politischen Korrektheit durchgesetzt zu haben scheint.

Im Abendlicht

Otello ist so schwarz und so weiss wie alle anderen Protagonisten, deren Gesichter grellweiss geschminkt sind, während sie in schwarzen, Renaissance-Vorbildern angenäherten Kostümen stecken. Nur Desdemona, darin bleibt Wilson dem klassischen Bild klischeehaft treu, darf auch am Körper weiss tragen, womit sie zum wandelnden Lichtfleck in den Lichtzauberwelten des Regisseurs wird.

In sanftem Blau schimmert der Horizont, an dem später blutig rot der Mond herniedersinkt. Die Nebelmaschinen versprühen während des eröffnenden Sturms ihre Strahlen mit nie gesehener Präzision, während der mit grosser Wucht singende Philharmonia-Chor Wien davor bewegungslos bleibt. Wie überhaupt Bewegungslosigkeit, Statik das Signum des Abends ist, an dem die Solisten fast immer vorn an der Rampe zu stehen kommen, in grösseren Ensembleszenen wie bei einem konzertanten Oratorium in einer Reihe aufgestellt. Wilson nimmt Verdis Spiel alle Psychologie, stilisiert Jago mit Spitzbart und angedeuteten Hörnchen dafür zum archetypischen Märchenteufel. Maskenhaft bleiben die Gesichter gefangen im engen Lichtkreis der punktgenauen Scheinwerfer, ihre Körper in Wilsons Bewegungsrepertoire, das den Sängern jede konkrete Regung aus dem Effekt heraus versagt.

Das alles sieht so schön aus, wie die Musik unter Zubin Mehta klingt. Der 82 Jahre alte Dirigent, der im vergangenen Jahr selbst mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, ist eingesprungen für Daniele Gatti, der sich nach undurchsichtigen #MeToo-Vorwürfen durch das Amsterdamer Concertgebouw Orkest frühzeitig für die Produktion krankgemeldet hatte. Altersmilde könnte man Mehtas Deutung im positiven Sinne nennen, undramatisch im schlechten. Mit den Berliner Philharmonikern legt er einen Weichzeichner über das Stück, nimmt häufig auch das Tempo zurück. Im transparent lichten Klang der Berliner sind einige Patzer umso deutlicher zu hören, die vielen langsamen Stellen glänzen dafür im Abendlicht fein ausgehörter Klangmixturen.

Makelloser Faltenwurf

Für das Stück könnte diese Mischung fataler kaum sein. Denn «Otello» ist ein blutiger, in einer rauen Männergesellschaft spielender Stoff, in dem selbst etwas von der Ungezähmtheit des Elefanten steckt. Wilsons Stilisierung, die am Schluss vom Publikum mit Buhrufen bedacht wird, zivilisiert ihn so sehr, dass der Eindruck entsteht, das in mehreren Händen elegant gehaltene Zentralrequisit des Taschentuchs und der makellose Faltenwurf des Lakens auf Desdemonas Totenbett seien dem Regisseur letztlich wichtiger gewesen als deren Ermordung.

Sonya Yonchevas Auffassung der Rolle kommt das entgegen, bleibt doch auch die vokale Deutung der Sopranistin immer kontrolliert, rund im Klang, satt in den Tiefen, fein in den pianissimo gesponnenen Höhen. Auch der zu Probenbeginn eingesprungene Bariton Vladimir Stoyanov vermag in diesem Korsett die Abgründe des Jago kaum zu entfalten. Dabei verfügt er durchaus über die einschmeichelnden Töne des Intriganten, auch über die kompakt kernige Kraft für sein dunkles «Credo in un dio crudel».

Die Titelrolle, von jeher nur wenigen Sängern in die Kehle gegeben, liegt bei Stuart Skelton in Händen und in der Kehle eines klassischen Heldentenors. Dafür geht ihm klanglich alle Italianità ab und, problematischer, die Sicherheit in den Höhen. Im eröffnenden «Esultate» sind sie unschön angeschliffen, schon zur Pause hin klingen sie zunehmend heiser. Aber Skelton weiss immerhin mit dramatischer Gestaltung in der «mezza voce» zu überzeugen, auch in den «erstickten» Farben der «voce soffocata». Und in seinem Schlussgesang «Niun mi tema» spürt man durchaus etwas von der Gebrochenheit im Auge des Elefanten, mit der Regie und Dirigat ausserhalb des Prologs nichts anzufangen wissen.

Clara und Robert

Leider vermag auch die am darauffolgenden Tag angesetzte Uraufführung im Theater Baden-Baden nicht stärker zu überzeugen. Realisiert wird sie von jungen Musikern der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker in Zusammenarbeit mit der «Akademie Musiktheater heute». Dabei kommt das Konzept überaus sympathisch daher: Victoria Bond hat mit «Clara» eine Oper über Clara Schumann geschrieben, eine der biografisch wie musikalisch interessantesten Musikerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, die in diesem Jahr ihren 200. Geburtstag begangen hätte.

Komponiert hat Bond das Werk in dem Haus im Baden-Badener Vorort Lichtental, das Clara Schumann in den vierzig Jahren nach dem Tod ihres Gatten Robert während zehn Jahren bewohnte. Indem das Stück dennoch mit Roberts Tod endet, definiert es Clara nahezu ausschliesslich über die Liebesbeziehung mit ihm. Entsprechend konventionell wirkt das Frauenbild, während sich die Librettistin Barbara Zinn Krieger kleinteilig durch die Stationen in Claras erster Lebenshälfte arbeitet.

Auch wenn die Musik dazu reichlich aus Werken von Clara und Robert Schumann wie aus solchen von Claras Lebensfreund Johannes Brahms zitiert, scheint sie wenig von deren Geist inspiriert. Tonal orientiert, fehlt es Bond an melodischen Einfällen für die Gesangsstimmen, während der erschreckend löchrige Kammerorchestersatz im Graben kaum übergreifende musikalische Strukturen entstehen lässt. Zwei verpasste Chancen.

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