SN.AT / Kultur / Allgemein / Kultur

"Orlando" im TaW: Händel als explosives Veteranendrama

Ludovico Ariosts rasender Roland, der "Orlando furioso", gehört zu den klassischen Stoffen des Barock, auf den wiederholt auch Georg Friedrich Händel zurückgriff. Dass die Geschichte um den in Liebeswahn verfallenden Kriegsheld viel Heutiges birgt, stellte am Sonntag Claus Guth mit seinem "Orlando" unter Beweis. Ein furioser Musik-Theaterabend, wie er so nur am Theater an der Wien zu erleben ist.

An diesem Abend stimmt letztlich alles. Guth - am TaW nicht zuletzt durch seine Interpretationen der Händel-Oratorien "Messiah" und "Saul" als Kenner der Materie etabliert - verlegt das mystische Geschehen in eine heruntergekommene Wohnanlage. Schwüle Palmenatmosphäre südländischer Gefilde dominiert. Hier haust Orlando (Christophe Dumaux) als kriegstraumatisierter Veteran, der sich in einer abgefuckten Junggesellenbude voller leerer Pizzaschachteln seinen Fantasien von einer Geliebten hingibt und auch von seinem väterlichen Mentor Zoroastro (Florian Boesch) nicht zum neuerlichen Einrücken bewegen lässt.

In derselben Anlage lebt Angelica (Anna Prohaska), das Objekt seiner Begierde, das sich aber mit Medoro (Raffaele Pe) aus dem Staub machen möchte. Während das Orlando endgültig in den Wahn und einen Amoklauf treibt, leidet Dorinda (Giulia Semenzato) relativ still vor sich hin. Sie betreibt einen kleinen Imbisswohnwagen vor der Anlage und ist in Medoro verliebt.

Dieses gesamte Konzept ist durchdacht, sinnhaft und geht ohne jegliche Brüche auf. Die einzelnen Figuren werden auch dem Menschen des 21. Jahrhunderts ungekannt verständlich. Nichts zu spüren von der dem Barock oft eigenen verwirrenden Abfolge einzelner Nummern ohne narrativen Zusammenhalt. Gefasst wird diese Struktur von zurückhaltenden und doch im Detail verblüffenden Projektionen von Rocafilm.

Vor allem ist dieses Kammerspiel aber nur mit einem herausragenden Ensemble zu bewerkstelligen - und das hat Guth zur Verfügung. In der Titelrolle brilliert Christophe Dumaux, der aktuelle Adonis der Counterwelt. Wohl kein Kollege könnte die Rolle des rasenden Kriegshelden Orlando mit so viel Körpereinsatz und in der Physis so glaubhaft verkörpern wie der 1979 geborene Franzose. Wer könnte schon inmitten einer Arie stimmlich wie körperlich unbeschadet von einem Wohnwagen springen? Die einzige Einschränkung bleibt hier, dass Dumaux leider von der Stimmfarbe her kein Hunk ist, sondern eher einen enggeführten Knabensopran hat, mit dem er lange Koloraturen allerdings mühelos bewältigt.

Die Entdeckung des Abends ist indes Hausdebütant Raffaele Pe. Der Italiener, der heuer auch bei der styriarte in "Apollo und Daphne" zu erleben ist, ist stimmlich gleichsam das Gegenstück zu Dumaux, beeindruckt mit femininem, klangschönen Timbre, das auch nicht darunter leidet, dass er auf offener Bühne ein Coupe mit Wagenheber wuchtet.

Eine ihrer besten Leistungen der vergangenen Jahre erbringt als Möchtegerngeliebte Angelica Anna Prohaska mit großem Schmelz, anschmiegsamer Weichheit und flüssigen Koloraturen anstelle der sonst für die 35-Jährige eigentlich typischen reduzierten Klarheit. Da steht ihr Giulia Semenzato als verletzte Vertreterin der arbeitenden Klasse in nichts nach. Wenn die beiden mit Pe ein Terzett singen, ist das nicht nur stimmlich berührend, sondern gestaltet auch die Beziehungen der drei Protagonisten untereinander so nuanciert wie nur selten auf einer Opernbühne zu erleben.

Und schließlich Florian Boesch. Der 47-Jährige stellt als Zoroastro - changierend zwischen väterlichem Mahner und besoffenem, an der Welt verzweifelndem Sandler - abermals am TaW seine herausragenden Qualitäten als Sängerschauspieler unter Beweis. Welcher traut sich sonst, eine Arie mit Tschick im Mund und besoffen an einen Baum pinkelnd zu intonieren und dabei einen Koloraturbogen mit Rülpser zu beenden?

Als Draufgabe dazu der Il Giardino Armonico im Graben, der zu den Urvätern der Originalklangbewegung gehört, und der Theaterabend sitzt. So beginnen die Italiener unter Giovanni Antonini die Ouvertüre gleichsam wie auf Valium - aber alles Täuschung. Über den Abend hinweg ziehen die Darmsaitler das Tempo ganz nach Bedarf an oder hauen die Handbremse rein. Gas gab dagegen am Ende das Publikum, welches das gesamte Ensemble auch nach dreieinhalb Stunden nicht von der Bühne lassen wollte.

KULTUR-NEWSLETTER

Jetzt anmelden und wöchentlich die wichtigsten Kulturmeldungen kompakt per E-Mail erhalten.

*) Eine Abbestellung ist jederzeit möglich, weitere Informationen dazu finden Sie hier.

KOMMENTARE (0)