Wie man den grossen Diktator besingt – die Oper und das Böse

In zwei neuen Opern zeichnen Hèctor Parra und Elena Mendoza ein abgründiges Bild des Menschseins. Die Uraufführungen in Antwerpen und Schwetzingen zeigen zugleich, wie brisant und gegenwärtig Musiktheater sein kann – und sein muss.

Marco Frei, Antwerpen/Schwetzingen
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Nicht alle waren Schreibtischtäter: Peter Tantsits als SS-Mann Max Aue in der Antwerpener Opernfassung von Jonathan Littells Skandalroman «Die Wohlgesinnten». (Bild: Vlaamse Opera)

Nicht alle waren Schreibtischtäter: Peter Tantsits als SS-Mann Max Aue in der Antwerpener Opernfassung von Jonathan Littells Skandalroman «Die Wohlgesinnten». (Bild: Vlaamse Opera)

Der kulturelle Chauvinismus ist ein Meister aus Spanien. Jedenfalls harrt in Iberien bis heute selbst die faschistische Franco-Diktatur einer konsequenten Aufarbeitung. Statt sich der Geschichte zu stellen, zelebrieren weite Teile von Gesellschaft und Politik in Spanien einen zentralistischen Nationalismus. Für konstruktive Diskussionen über mehr Autonomie in bestimmten Landesteilen bleibt da wenig Raum. Was drohen kann, zeigt das gegenwärtige Chaos rund um die Katalonien-Frage.

Eine Lösung ist noch immer nicht in Sicht. Statt miteinander zu reden, wird vor allem übereinander geredet – in aggressiver Kakofonie. Umso bemerkenswerter erscheinen die beiden neuen Musiktheaterwerke, die zwei im Ausland lebende Spanier realisiert haben: Elena Mendoza aus Sevilla und Hèctor Parra aus dem katalanischen Barcelona. Beide Werke bilden zusammen ein packendes Narrativ – beklemmend gegenwärtig, auch als kritischer Blick auf die Heimat ihrer Schöpfer.

Da ist Mendozas Oper «Der Fall Babel», mit dem in diesem Jahr die Festspiele des SWR in Schwetzingen eröffnet wurden: Alles dreht sich um Sprache und Identität. Der Mehrsprachigkeit wird die uniforme Welt einer von oben diktierten Einsprachigkeit gegenübergestellt. Wie sehr im Verlust von Diversität totalitäre Ideologien drohen, zeigt wiederum der Blick in die Geschichte: Hier setzt Parras Opernadaption «Die Wohlgesinnten» an, uraufgeführt an der Flämischen Oper in Antwerpen. Die gleichnamige Romanvorlage von Jonathan Littell aus dem Jahr 2006, ein äusserst kontrovers diskutierter Kassenschlager, rückt die fiktiven Erinnerungen des SS-Mannes Maximilian Aue in den Fokus.

Todessuite

Ein harter Stoff: Aue ist dabei, wenn in Babi Jar bei Kiew unzählige Juden erschossen werden, Stalingrad zum Blutacker wird und in Auschwitz die Menschenvernichtung fortschreitet, bis schliesslich Berlin in Trümmer fällt. Für seine Taten muss sich Aue dennoch nicht verantworten – ihm gelingt die Flucht. Die Rachegötter sind ihm wohlgesinnt. Selbst die Ermordung seiner Mutter (Natascha Petrinsky) und ihres Partners (David Alegret) bleibt ungeklärt, obwohl der Täter wohl Aue selber ist. Er wird eine Art moderner Orest. Zu seiner Schwester Una (Rachel Harnisch) pflegt er eine inzestuöse Beziehung.

Die Täter-Perspektive, aus der Littell erzählt, ist nicht neu, auch nicht im Kontext der Holocaust-Literatur. Schon der Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat die eigenen Erlebnisse umfassend eingefangen, aus mehreren Blickwinkeln heraus – überdies in nüchterner Distanz, ohne voyeuristische, sensationslüsterne Beschreibungen des Grauens. Dagegen bedient sich der über tausend Seiten starke Wälzer von Littell etlicher Klischees. Da werden pausenlos platte Nazi-Befehle herausgebrüllt und in Nahaufnahmen beschrieben, wie Menschen umgebracht werden – ein detailbesessener Blutrausch wie bei Quentin Tarantino.

Das alles verpackt Littell in Form einer barocken Suite, wie sie von Johann Sebastian Bach stammen könnte. Toccata, Allemande, Courante, Sarabande, Menuett, Air und Gigue lauten die Kapitelüberschriften. Doch bei Littell werden diese Bezeichnungen literarisch nicht weiter nachvollzogen. Sein Roman ist eben keine «Todesfuge». Mit ihr hatte Paul Celan 1944/45 ein kompositorisches Prinzip meisterhaft auf die Lyrik übertragen.

Im irritierenden Widerspruch zwischen Form und unmenschlichem Inhalt wird das Grauen der Shoah umso schockierender eingefangen. Genau hier setzt das Libretto von Klaus Händl an, um aus dem ausufernden Roman eine sprachlich vollendete Klanglichkeit zu generieren – die einzelnen Tanzsätze der Suite in feinen Details aufgreifend. Aus den «Wohlgesinnten» hat Händl eine «Todessuite» gemacht, allein deswegen ist Parras Werk keine Literaturoper im überkommenen Sinne. Überdies geriert die radikale Reduktion des Stoffes eine grundlegend andere Dramaturgie.

«Sprache der Feinde»

Das Ergebnis ist eine Charakterstudie des Bösen, die Parra in seiner Musik kongenial aufgreift. Ähnlich wie andere Werke, die seit 2017 entstanden sind, strebt auch diese Musik in die Vertikale. Im Schaffen Parras ist diese Tendenz ungewöhnlich. Er selbst betont, dass ihn die Bilder von den Strassenschlachten aus Barcelona nach dem Unabhängigkeitsreferendum von 2017 zutiefst erschüttert hätten. Gleichzeitig sind Anspielungen auf Bachs Johannes-Passion präsent, ebenso Schlüsselwerke von Anton Webern und Alban Bergs «Wozzeck».

Alles dies fliesst atmosphärisch ein, als «Allusionen», wie es Alfred Schnittke formuliert hätte – inspiriert zudem von Schostakowitschs 13. Sinfonie «Babi Jar» und Bernd Alois Zimmermanns «Die Soldaten». Eine höchst expressive, meisterhaft orchestrierte Musik ist das Ergebnis, die an der Premiere unter der exzellenten Leitung von Peter Rundel einen unaufhaltsamen Sog entwickelte – eine Glanzleistung von Chor und Orchester der Flämischen Oper.

Es sind bereits unmissverständliche Bilder, die Parra klingen lässt. Statt die Musik zu verdoppeln, arbeitet die Regie von Calixto Bieito denn auch konsequent mit konziser Reduktion. Für die «Wohlgesinnten» hat der sonst oft bildwütige Katalane eine fast schon aseptisch karge Bühne entworfen – einen Raum mit mehreren Türen. Noch sind die Wände weiss, bald werden sie mit Dreck und Schlamm beschmiert sein. Eine nackte Frau und ein nackter Mann stehen stellvertretend für die Millionen Misshandelten und Ermordeten.

Im Übrigen aber wird man Zeuge eines Kammerspiels, das die Solisten mit grösster Intensität verlebendigten. Gleiches gilt für den «Fall Babel». Auch hier spielt das «Dritte Reich» eine Rolle, jedenfalls wo das Musiktheater auf dem Hörspiel «W wie ihr Name» von Cécile Wajsbrot basiert. Ein Teil von Wajsbrots Familie wurde in Auschwitz umgebracht. Um das Jiddische ihrer Vorfahren zu erlernen, nahm sie Deutschunterricht – die «Sprache der Feinde». Darüber hinaus haben Mendoza und der Regisseur Matthias Rebstock vor allem zwei Texte von Fabio Morábito verwendet, nämlich den Kurzessay «Warum wir übersetzen» sowie «Die Vetricciolis». Letztere sind eine Familie von Übersetzern, die von einem konkurrierenden Clan niedergemetzelt wird. In «Bioskoop der Nacht» von Yoko Tawada träumt hingegen eine Frau in einer Sprache, die sie nicht beherrscht – in Afrikaans.

Die Geschichten verschachteln und verdichten sich zusehends, was im stählernen Kubus der unablässig kreisenden Bühne von Bettina Meyer sinnstiftend visualisiert wird. Als verbindendes Element fungieren die geräuschhaften, lautmalerischen Aktionen, die Mendoza komponiert hat – ganz ohne traditionelles Orchester, nur mit umfangreichem Schlagwerk, Gesang und Elektronik. Die Schola Heidelberg stellt den Chor und die Solisten. Unter der Leitung von Walter Nussbaum und mithilfe der vom SWR-Experimentalstudio exzellent ausbalancierten Elektronik wird ein entmenschlichter Maschinenklang hörbar, reich an abgründigen Assoziationen.

Barocker Leichenschmaus

Peter Tantsits ist in Antwerpen in der zentralen Rolle des Max Aue dagegen allein auf seine stimmlichen Ausdrucksmittel gestellt. Was er hier vollbringt, ist eine künstlerische Glanzleistung, die lange nachwirkt. Nicht zuletzt durch seine Darstellung und die beredte szenische Umsetzung, die das vermeintlich nicht Darstellbare zu Schlüsselszenen verdichtet. Da wandelt Tantsits als Aue durch die Villa der ermordeten Mutter; während er sich zwischen den Leichen lustvoll vergnügt, spielt eine Pianistin eine barocke Air in Bach-Manier. Sie entschwebt allmählich in den Theaterhimmel, mitsamt dem Klavier. Im Führerbunker erblickt der unterdessen wahnsinnig gewordene Aue schliesslich Adolf Hitler und beschreibt in einem rezitativischen Monolog den «Grossen Diktator».

Damit könnte Parras Oper enden, der Rest ist zu lang. So oder so ist dies die wohl tückischste und teuflischste Tenorpartie der jüngeren Operngeschichte, die Parra hier geschrieben hat. Für die Uraufführung war es nicht einfach, einen Solisten für die Rolle zu finden – umso fesselnder das Ergebnis. Es spricht für den Schweizer Aviel Cahn, dass er zum Ende seiner Intendanz in Antwerpen – vor seinem Wechsel nach Genf – diese kühne Uraufführung gewagt hat. Mit ihr wird am Ende sogar ein fragwürdiger Roman gerettet – Chapeau!

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