Rückwärts immer. Nach dem angegilbten Fontane-Frauenschicksal „Oceane“ an der Deutschen Oper folgte jetzt im Wochenabstand die nächste große Berliner Nostalgiemusiktheater-Uraufführung. Komponist Moritz Eggert und Hausherr Barrie Kosky als Regisseur wie Librettist haben für die Komische Oper aus Fritz Langs Suspense-Filmklassiker „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ von 1931 eine einaktige Oper in 100-minütiger Kinolänge verfertigt. Die aber zieht sich, weil sich die Autoren nicht entscheiden können, was für eine Haltung sie dem hier gejagten Kindermörder gegenüber einnehmen wollen.
Mit dem Hackebeilchen
Peter Lorre wurde als glubschäugig gequälte Gestalt mit diesem Schwarz-Weiß-Meisterwerk zum Star – eine sich krümmende und windende, immer wieder ihrem Trieb nachgebende Kreatur. Viel sprechen musste er nicht, lange sieht man nur seinen Schatten. Und hört ihn pfeifen – eine suggestive Melodie aus Edward Griegs „Peer Gynt“-Suite.
Worauf die nur in Maßen verängstigten Berliner Gören mit dem Mörder-Haarmann-Liedchen (das einer Melodie von Walter Kollo unterlegt wurde) antworten: „Warte, warte nur ein Weilchen“. Beide Motive verwurstelt auch Moritz Eggert in seinem vor Ismen überquellenden Partitur-Pastiche. Das will einmal mehr verständlich und melodisch sein, den Opernhörer abholen. Und ist doch nur ein konfuses Durcheinander kurzer, polystilistischer Musikmomente.
Da gibt es Eighties-Schweineorgel, Jazz und Freestyle, große Oper, Surround-Elektronik, Straßenlärm, Hörspiel-Underscoring, einiges Gesprochenes und viel Möchtegern-Kurt-Weill. Besonders in den diversen, eigens angesagten Balladen und Romanzen, die neben einigen Kinderliedern von Walter Mehring ausgeborgt wurden. Doch wenn da die „Arie von der großen Hure Presse“ angestimmt wird oder von „der gestörten Nachtruhe“ die Rede ist, dann sehnt man sich doch sehr nach Brechts „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ und dem „Mond über Soho“. Klanglich wird überhaupt ein etwas dünnbrüstiges Babylönchen Berlin anvisiert. Die erhoffte Sinfonie einer Großstadt endet in einer klapprigen Materialsammlung von Mörder-Oper, die sich episch spreizt.
War er’s oder war er’s nicht? Das wird bis zum Ende nicht klar. Scott Hendricks als wenig charismatischer, aber mit allzu viel redundantem Text versehener, vom „Püppelein“ und dem „Butzemann“ trällernder M ist von Anfang an als Jagender wie Gejagter präsent. Die Szene wird nur sehr flach bespielt. Während auf einem halbhohen Laufsteg Ziehharmonikawände als Mietskasernenflure oder Polizeizimmerfluchten, Notausgänge und am Ende gar bunte Paravents vorbeimäandern, läuft das Geschehen oft leer.
Der Mann, er könnte auch nur Honig im Kopf haben, scheint sich als Ausgegrenzter, als von der Gesellschaft Verfolgter zu fühlen. Er mordet nicht, wird nie gestellt oder gar gelyncht. Am Ende ergeht er sich noch in einem weinerlich-länglichen Rechtfertigungsmonolog. „Und raus bist du“, kräht den Abzählreim dann letztmalig eine Göre.
Um M herum wimmelt das Nichts – in Gestalt von Kindern mit erwachsenen Pappschwellköpfen in allen übrigen, nicht definierten, seltsam zwergenhaften Kollektivrollen. Die spielen das menschenwuselnde, verängstigte, dennoch feierwütige Berlin. Noch so ein zwar origineller, aber wenig bringender V-Effekt.
Hysterie kommt hier nicht auf
Sie agieren mit groteskem Armeschlenkern, gesungen wird per Mikro von hinten. Genauso wie anonyme Stimmen der Großstadt – ein Solosopran und -tenor heben sich hervor – aus dem Orchestergraben tönen, wo Ainārs Rubiķis alles ohne besondere Vorkommnisse klangklabauternd im Griff hat.
Der Protagonist in diesem tödlichen Singspiel hat freilich, obwohl der 60-köpfige, famose Kinderchor der Komischen Oper immer wieder geballt hereinwuselt, kein ortbares Gegenüber. Und das macht diese Mörder-ohne-Gendarm-Sache schnell langweilig.
Hysterie, Psychose gar kommt in dem soliden Spiel mit Musike nicht auf. Ein Gutes freilich hat diese halb gare, auch von Barrie Kosky szenisch nur auf kleiner Flamme geköchelte Uraufführung: Man hat sich, trotz David Schalkos gar nicht spannender, aber in schräge, politisch nach rechts driftende Wienbilder gegossener TV-Serienneufassung, vorab wieder mal die Vorlage angeschaut – und gestaunt.
„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ ist immer noch und immer wieder ganz großes Kino, keine Sekunde gealtert, atemraubend modern, scharf, fokussiert; vor allem glasklar die autoritäre, die alte Gewaltenteilung aushebelnde Nazimacht vorausahnend. Dagegen ist diese Oper nur eine olle Singkamelle.