Revolution mit blütenweißen Häubchen, lieb und harmlos, schon seit über hundert Aufführungen – das spielt aber keine Rolle, wenn Anna Netrebko, Wahlwienerin und trotzdem rarer Gast im Haus am Ring, angesagt ist. Oder doch? Weltstars wie sie haben Fans quer durch die Bevölkerung, und einige davon gehören nicht unbedingt zur Stamm-Klientel der Opernhäuser, möchten aber einmal live dabei sein, wenn die Diva singt. Erleben sie Umberto Giordanos Andrea Chénier zum allerersten Mal, stellen sie fest, dass ihr Idol als Maddalena di Coigny nur eine, allerdings sehr bekannte Solo-Arie zu singen hat, daneben eher Belangloses über Puder und Korsette. Den Rest bestreiten ein Tenor, der einen überspannten Poeten gibt, ein sinistrer Bariton und ein Dienstmädchen, das im Paris der Französischen Revolution die adlige Herrin von ihrem Lohn als Sexarbeiterin durchfüttert.

Die obskure Geschichte von Luigi Illicas Tosca-Testlauf überzeugt ein modernes Publikum nicht unbedingt, allerdings lässt man sich immer wieder gern von den Ohrwurm-Arien und der feinen Ausarbeitung der verbindenden Musik verführen: Wenn sich im Finale Sopranistin und Tenor in Erwartung auf den Guillotinen-Tod in Ekstase singen, lässt das niemanden kalt, und dieser Adrenalinstoß sorgt verlässlich dafür, dass man das Haus in dem Glauben verlässt, man hätte gerade eine Offenbarung erlebt. Das war auch am besprochenen Abend so, aber nüchtern betrachtet (und im Vergleich mit dem, was das Duo Kaufmann/Harteros in der letzten Saison ablieferte) wuchsen nur die Leistungen von Anna Netrebko und Marco Armiliato am Pult über das hinaus, was einen gepflegten Otto Schenk-Repertoire-Abend ausmacht.

Anna Netrebko liebt die große Geste, die manchmal ins Outrieren umschlägt, aber genau das ist es, was sie im ersten Akt wesentlich präsenter als andere Maddalenas macht, die neben Chéniers Auftritt und dem Eindringen der Bauern in die Festgesellschaft meist blass bleiben. Abgesehen davon übertrifft sie regelmäßig auch hochgesteckte Erwartungen: Die wenigen Minuten von „La mamma morta“ waren immer eine Reise vom Dunkel ins Licht, aber nur wenige Sängerinnen können so aus sich herausgehen wie sie. In dem Moment, wo man meint, Gewohntes zu hören, zündet der Netrebko-Turbo und reißt alles und alle mit sich. Da bekommen auch nicht-esoterische Naturen einen Eindruck von höherer Macht, der Text bräuchte nicht einmal „Io son divina“ („Ich bin göttlich“) zu lauten.

Das Gutturale ihrer Stimme in der mittleren und tiefen Lage, das Netrebko oft überbetont, kann man mögen oder nicht, aber in dieser dramatischen Rolle ist es nicht ganz fehl am Platz. Zudem dürfte dieser dunkle Teil ihrer Stimme das Fundament der weichen, niemals scharfen Höhe sein. Weniger Freude hatte man diesbezüglich mit Yusif Eyvazov, dessen Timbre nicht immer überzeugte. Es wirkt durchwegs uneben, gar brüchig, wiewohl ihm dank solider Technik kein Ton abreißt. Was er als Andrea Chénier zu singen hat, hat er sich gut erarbeitet, und das sollte im Vergleich zu dem, was man schon an Negativbeispielen erlebt hat, auch nicht geringgeschätzt werden.

Von Luca Salsi, der er erst vor vier Monaten eine Andrea Chénier-Serie am Haus bestritten hat, hätte man sich mehr erwartet – ein gelungenes „Nemico della patria“ macht noch keinen zwielichtigen Gérard, das meiste davor klang hohl und beliebig. Beliebig ist auch das, was einem zu den Damen des Chores einfällt, die in Gesang und Gestik prototypisch für die hübsche Harmlosigkeit dieser Inszenierung stehen: Keine Bösartigkeit trübt die Freude, wenn sie im dritten Akt die Fäuste zu den Todesurteilen in die Höhe recken – da geht es bei jedem Fußballspiel aggressiver zu.

Bis auf Wolfgang Bankl, der als Mathieu Eindruck machte, wusste sich das übrige Personal kaum in Szene zu setzen. Ironischerweise tat sich aber gerade der Sänger der winzigsten Solo-Partie (Schmidt) hervor: Wenn Ayk Martirossian (wie schon in der Kaufmann/Harteros-Serie) Maddalena als „Idia Legray“ zum Schafott ruft, ist das immer beklemmend.

Immerhin kann von der musikalischen Leitung des Abends durch Marco Armiliato überwiegend Positives berichtet werden; die Lautenstärkenregulierung funktionierte anders als in der Vergangenheit hervorragend, dafür hätte der Chor mehr Aufmerksamkeit gebraucht. Von diesen (für die erste Vorstellung einer Serie nicht unüblichen) Kleinigkeiten abgesehen, wurde vom Orchester Außerordentliches geboten; große und dramatische Bögen, feine Spitzenmuster in den Streichern bei der Gavotte im ersten Akt, gefühlvolle Sängerbegleitung – so soll es sein.

***11