Ein bloßer Gedankenstrich, eine Leerstelle im Textgeflecht der Erzählung Die Marquise von O…., gilt seit Erscheinen der romantischen Novelle Heinrich von Kleists als berühmteste Interpunktion in der deutschen Literaturgeschichte. Barrie Kosky legt nun einen ebensolchen syntaktischen Freiraum in Claude Debussys Literaturoper Pelléas et Mélisande frei. Gemeinsam mit dem Ensemble des Nationaltheater Mannheims rückt Generalmusikdirektor Alexander Soddy in dieser Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin die Stille, das musikalische Pausenzeichen, ins Zentrum einer von schlichter Eleganz und reduzierter Sprache geprägten Inszenierung.

In einen grauen, von matter Leere durchzogenen Bühnenraum schieben sich die im Entwurf von Klaus Grünberg und Anne Kuhn aufgereihten Figuren und werfen in einem atmosphärisch dichten Lichtspiel lange Schatten an die von Rasterpunkten überzogenen Wände. Ein angedeuteter Plüschvorhang zu den Seiten, welche nur über eines der variablen Drehelemente der sich stetig drehenden Maschinerie zu fliehen sind, deutet die Szene als grausames Spiel eines nicht enden wollenden Kreislaufes der Gewalt an. Während die in der Vorlage des belgischen Dramatikers Maurice Maeterlinck märchenhaft anmutenden, mystischen Stimmungen vom Schauplatz der Tragödie entweichen, treten im mikroskopischen Blick Barrie Koskys und der reduzierten Sprache seiner Regie, in der spröden Brüchigkeit der Handlung die Sänger gleich Marionetten in den Fokus.

Wie eine Fremde scheint Mélisande in dieser, einer mittelalterlichen Sagenwelt entlehnten Anderswelt und findet in Pelléas, der im violetten Samtanzug im entzauberten Raum der Aufklärung ebenso verloren scheint wie sie im funkelnden Kleid, einen Seelenverwandten. Claude Debussys wogende und fließende Klangbilder versiegen jedoch in einem sehr zurückgenommenen, verhaltenen Dirigat und so verliert Mélisande ihren Ring nicht mehr am verwunschenen Brunnen, den sie mit Golauds Halbbruder aufgesucht hat, sondern verschlingt ihn in Freud‘scher Lust. Als sich ihre Hände zu einem gewaltigen Wurzelgeflecht entwickeln, dem wohl einzigen mythischen Requisit, scheint auch sie in dieser sterilen Realität verloren.

Schonungslos sezierte Astrid Kessler in ihrem ausdrucksstarken Rollendebüt der Mélisande die Verhältnisse in Allemonde. Ihre sich im stetigen Wechsel der Kostüme widerspiegelnde Ambivalenz zeichnete die Sopranistin mit bis zur Fragilität geführten, klar durchsichtigen Tönen nach und überzeugte mit einer körperbetonten, herausragenden Darstellung. Blutbeschmiert liegt sie nach der vermeintlichen Fehlgeburt ihres Kindes leblos am Boden, während sich das Rad des Schicksals weiterdreht und sie gegen die Seitenwände stößt, bevor sie zusammengesunken vom Schauplatz gefahren wird.

Eindrücklich und mit großer Wirkung gestaltete am Premierenabend Joachim Goltz die Figur des blind in seinem Zorn gewordenen Golaud, der sich von seinem Bruder Pelléas wie seiner Angetrauten Mélisande verraten fühlt und vor Eifersucht entbrannt Yniold benutzt, um die angebliche Schmach aufzudecken. Mit baritonaler Wucht rückte er die Szene, in welcher Golaud seinen von Fridolin Bosse großartig dargestellten Sohn die beiden vermeintlichen Geliebten durch ein Fenster beobachten lässt, zum Synonym einer zerbrochenen Familie, deren Porträt in der Enge dieser Verhältnisse am Ende vergeblich wiederherzustellen versucht wird.

Nach dem Mord am eigenen Bruder Pelléas, den Ramond Ayers mit jugendlicher Naivität und hellem Bariton darzustellen wusste, und dem Tod Mélisandes bleibt bei der Aufstellung mit dem eigenen Großvater Arkel, den Patrick Zielke mit ausdrucksstarkem Bass darbot, und der Mutter Golauds und Pélleas‘, welcher Kathrin Koch mit vollem Mezzosopran Kontur verlieh, eine Leerstelle. Alexander Soddys mit dem Orchester des Nationaltheaters spannungsvoll aufgeladene Atempausen in der Musik, traten damit aus den Gefilden des Kammermusikalischen und erwuchsen zum Äquivalent dieses von der Regie gesetzten Gedankenstrichs, einem Spiel von lakonischer Eleganz ohne jedwede Hoffnung.

****1