Das Vorspiel zu Wagners Tristan und Isolde gehört zu den meistinterpretierten, meistdiskutierten und -gedeuteten Vorspielen der Operngeschichte. Jeder Ton scheint bedeutungsaufgeladen und bereits die ersten Akkorde lassen den Hörer in die Sehnsuchtswelten Wagners eintreten. Mit der Aneinanderreihung der sich nicht auflösenden Harmonien und deren Abbruch in Dissonanzen, schafft er eine unendliche Melodie, die erst im dritten Akt ihre Auf- und damit Erlösung findet.

Die Handlung in seiner metaphysischen Deutung macht dieses Werk ebenso visionär und zukunftsweisend. Wagners „Opus metaphysicum“, wie es Friedrich Nietzsche betitelte, drückt ein sich Sehnen und Vergehen aus, das Ohnegleichen ist. Ein Sehnen als höchste Steigerung der Liebe, die ihren Ausdruck im Tod findet. Tristan und Isolde auf eine tragische Liebesgeschichte zu reduzieren wird dem Werk somit keinesfalls gerecht. Dies erkennt auch Regisseur Ludger Engels und anstelle der moralisch verwerflichen Verfehlungen verdeutlicht er am Stadttheater Bern die metaphysische Ebene der Oper in ihrer Vielschichtigkeit.

Er inszeniert das Werk zunächst in einem Kunstatelier als Performance in einem eingegrenzten Raum. Wie ein Diorama, in einem „Raum im Raum“ wird kammerspielartig eindringlich das Zusammenspiel zwischen Isolde und Brangäne, aber auch ihr Wiedersehen mit Tristan dargestellt. Eingeengt in diesen Kasten ist die angespannte Stimmung geradezu unerträglich. Ein Künstler, dargestellt von Andries Cloete, der sowohl den Hirten als auch die Stimme eines jungen Seemanns verkörpert, inszeniert seine Figuren als Liebesdrama in seinem Atelier und lässt es zur persönlichen Wirklichkeit werden.

Stets präsent sind dabei zwei stumme Schauspielerinnen. Sie spielen die „Vergangenheit“ und die „Zukunft“ – eine alte und eine jubge Frau. Diese zeitauflösenden Figuren laufen stets über die Bühne und werden zusammen mit Isolde zum Sinnbild für die drei Frauen, die Richard Wagner zur Entstehungszeit seines Tristans begleitet haben: seine damalige Ehefrau Minna, Mathilde von Wesendonck und seine spätere Ehefrau Cosima – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Ludger Engels verknüpft mehrere Ideen zu einem eindrucksvollen Ganzen. Von Akt zu Akt steigert er die Kunstwerdung des Stücks und verleiht der Inszenierung geradezu lyncheske Züge: eigenartig, nahezu grotesk und befremdlich wirkt das Handeln der Figuren.

Inspiriert hat Engels dabei das künstlerische Schaffen Jonathan Meeses. Meese beschäftigt sich dabei u.a. mit Mythen und Heldensagen, was die Verbindung zu der auf dem mittelalterlichen Tristan-Epos basierenden Oper nahe liegen lässt. Seine fast naive, spielerische Herangehensweise an die Kunst wirkt geradezu revolutionär und ähnelt darin Wagners Schaffensweise, der mit Tristan und Isolde eine Oper schuf, die entgegengesetzt der gesellschaftlichen Normen agiert und in ihrer musikalischen Transzendenz bis dato ohnegleichen ist.

Das Künstlerische Schaffen wird im zweiten Akt spielführend in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt. Die „Nacht der Liebe“ wird zum kosmischen Liebesakt. Tristan und Isolde scheinen aus ihren eigenen Körpern herauszutreten und in der Entmaterialisierung, dem Sich-Auflösen und Nicht-mehr-Seins, höchste Ekstase zu erfahren. In der Vereinigung erleben sie „höchste Lust“ und wie Sterne im All schweben sie, völlig losgelöst von allem Irdischen. Der anfangs so einengende Raum löst sich auf, Zeit und Raum werden zu bloßen Begriffen, die keinerlei Bedeutung mehr zu haben scheinen. In ihren silbern glitzernden Paillettenanzügen – wie in Sternenstaub gehüllt – wirken sie außerweltlich, geradezu jenseitig. Das Liebesduett wird für beide zum Auslöser des Drangs nach Erfüllung ihrer künstlerischen Freiheit.

Im letzten Akt weichen alle räumlichen und gedanklichen Schranken einer die ganze Bühne einnehmenden Performance. Statt von Melot verwundet, scheint Tristan entrückt – vollkommen einem künstlerischen Wahn verfallen, schafft er unentwegt neues. Die ganze Bühne, sein ganzes Dasein einnehmend, ist seine Installation. Der Raum wird zum Gesamtkunstwerk, einem Ort der Sehnsucht und Utopie, indem alles möglich zu werden scheint.

Catherine Foster war eine strahlende Isolde, die mit stimmlicher Brillanz und einem überzeugenden Spiel aufwartete. Facettenreich spielte sie Isolde ebenso überzeugend zwischen rasender Wut einer Betrogenen, wie in liebender Selbstaufgabe im Namen der Kunst. Forster unterstrich jeden Satz mit eigener Geste, erkannte die Ironie der Aussagen ihrer Rolle und porträtierte eine selbstsichere Isolde.

Der schwedische Tenor Daniel Frank debütierte in Bern nun als Tristan und verfügte über eine recht tief gefärbte Stimme, die er in eleganter Gesangslinie gut zu disponieren wusste und so einen Tristan gestaltete, wie man ihn nur selten zu hören bekommt. Frei von jeder Anstrengung war seine Phrasierung weniger auf das deklamatorische, sondern mehr auf die Melodielinie und stimmlichen Wohlklang angelegt.

Ebenso beeindruckend war Claude Eichenbergers Porträt Brangänes. Darstellerisch stets präsent und überzeugend, war ihre kraftvolle, dramatische Mezzostimme. Robin Adams gab ihr gegenüber einen brutalen und eindringlichen Kurwenal. Kai Wegner gestaltete Marke sehr versöhnlich, aber mit heller Stimme und deutlicher Artikulation überzeugend. Dieser Marke war Tristan gegenüber geradezu mitfühlend und keineswegs hasserfüllt.

Das Berner Symphonieorchester unter Leitung von Kevin John Edusei imponierte mit einem vollen Klang und spannungsreicher Interpretation. Mit eindrucksvoll variierten, recht langsamen Tempi zog Edusei weite Kreise und bewahrte stets den dramatischen Bogen im Blick.

Während Isolde ihren Liebestod singt werden alle Charaktere Teil des Kunstwerks indem sie sich durch Kunst ausdrücken, verwirklichen und somit befreien. „Kunst ist die totalste Freiheit“ – dieses Postulat Jonathan Meeses durchdringt die Inszenierung und spiegelt deren Kern wieder. „Ungetrennt, ewig einig ohne End'“ – statt des gänzlichen Verlöschens ihrer menschlichen Existenz im Tode erfahren Tristan und Isolde Erlösung in der befreienden Wirkung der Kunst.

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