Ein Jahrhundert zu spät, aber so packend wie selten

Erich Wolfgang Korngolds Zwanziger-Jahre-Hit «Die tote Stadt» erobert die Mailänder Scala im Sturm. Ein Triumph für alle Beteiligten – und nicht zuletzt für das Werk selbst, neunundneunzig Jahre nach der Uraufführung.

Christian Wildhagen, Mailand
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Hitchcocks «Vertigo» als Oper vorweggenommen: Paul (Klaus Florian Vogt) bewahrt Erinnerungsstücke an seine Frau Marie wie Reliquien. Doch plötzlich scheint die Verstorbene leibhaftig vor ihm zu stehen. . . (Bild: Brescia / Amisano / Teatro alla Scala)

Hitchcocks «Vertigo» als Oper vorweggenommen: Paul (Klaus Florian Vogt) bewahrt Erinnerungsstücke an seine Frau Marie wie Reliquien. Doch plötzlich scheint die Verstorbene leibhaftig vor ihm zu stehen. . . (Bild: Brescia / Amisano / Teatro alla Scala)

Seit der letzten Jahrhundertwende geht das nun schon so: Wo immer «Die tote Stadt» auf den Spielplänen grosser, aber auch mutiger kleinerer Häuser auftaucht, macht die Oper Furore. Staunend und für einen Moment sprachlos sitzen die Menschen am Ende da, brauchen ein Weilchen, um aus dem raffinierten Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit in die «richtige» Realität zurückzufinden; dann bricht Jubel los, meist einhellig, beispiellos. So geschah es auch jetzt wieder, an der Mailänder Scala, die Korngolds klingenden Brügge-Trip mit unglaublichen 99 Jahren Verspätung zum ersten Mal in einer Neuproduktion zeigte – und damit dieselbe verblüffte Publikumsreaktion hervorrief.

Tatsächlich ergeht es heutigen Hörern kaum anders als den Zeitgenossen der Uraufführung 1920, die zeitgleich in Hamburg und Köln stattfand. Damals mussten die Hörer obendrein begreifen, dass dieser Rausch an suggestiven Klängen und unvergesslichen Melodien, wegweisend für die gesamte spätere (!) Filmmusik Hollywoods bis in unsere Tage, das Werk eines gerade 23 Jahre alten «Wunderkindes» ist. Wir wissen inzwischen, dass es mit solchen Kindern wie mit den «Wundern» selten eine gute Wendung nimmt, so auch bei Korngold. Doch der nunmehr zweite Siegeszug seines Erfolgsstücks von einst erscheint unterdessen unumkehrbar.

Mut wird belohnt

Eine solche Revision der Musikgeschichte wird bei vielen vernachlässigten Stücken versucht, freilich gelingt sie nur selten im überregionalen Massstab. Dass die Mailänder Scala die triumphale Rückkehr der «Toten Stadt» ins internationale Repertoire nun mit einer hochkarätigen Produktion entscheidend vorantreibt, ist noch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Das traditionell nicht gerade für revolutionäre Programmkonzepte bekannte erste Haus Italiens absolviert – ungerührt von den jüngsten administrativen Winkelzügen seines Intendanten Alexander Pereira – eine der unkonventionellsten Spielzeiten seit langem. Sie umfasst neben der Korngold-Novität auch Zeitgenössisches wie die Uraufführung von György Kurtágs grosser Beckett-Oper «Fin de partie», Unbekanntes von Puccini und sogar eine absolute Strauss-Rarität, nämlich «Die ägyptische Helena» im November.

«Ich will den Traum der Wiederkehr»: Der Witwer Paul (Klaus Florian Vogt) glaubt in der lebenslustigen Tänzerin Marietta seiner verstorbenen Frau Marie (Asmik Grigorian in einer Doppelrolle) wiederzubegegnen. (Bild: Brescia / Amisano / Teatro alla Scala)

«Ich will den Traum der Wiederkehr»: Der Witwer Paul (Klaus Florian Vogt) glaubt in der lebenslustigen Tänzerin Marietta seiner verstorbenen Frau Marie (Asmik Grigorian in einer Doppelrolle) wiederzubegegnen. (Bild: Brescia / Amisano / Teatro alla Scala)

Für die Scala mit ihrem stark auf italienische Dauerbrenner abonnierten Publikum bedeuten gerade solche Ausflüge in die deutsche Spät- und Nachromantik noch immer ein Wagnis; bei der Korngold-Premiere blieben prompt ein paar Plätze leer. Dabei demonstriert namentlich das Scala-Orchester, das unter Musikdirektor Riccardo Chailly hörbaren Aufschwung nimmt, seine stilistische Kompetenz ebenso bei der Musik des Fin de Siècle. Alan Gilbert, der künftige Chef des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters, geht die überreiche Partitur allerdings auch mit der Genauigkeit und instrumentalen Tiefenschärfe eines Konzertdirigenten an. Das eskalierende Psychodrama auf der Bühne hält er dabei an straffem, gegen Ende zu straffem Zügel.

Entschleierungstanz

Andererseits eröffnet die restriktiv zurückgenommene Dynamik Klaus Florian Vogt und Asmik Grigorian in ihren mörderischen Partien so viel Gestaltungsspielraum wie selten. Vogt gibt in der bildstarken Inszenierung von Graham Vick als Paul einmal nicht den Psychopathen, sondern einen Vereinsamten unserer Tage, der vergeblich versucht, seine verstorbene Frau Marie mit allen medialen Mittel auferstehen zu lassen.

Das Ganze ufert naturgemäss in wahre Bilderorgien aus (theatral wie digital), sogar mit Anspielungen auf Tagesaktualitäten wie das Rammstein-Video und die Österreich-Krise – und eskaliert schliesslich völlig, als sich die überragende Asmik Grigorian in ihrer Rolle als libertäre Doppelgängerin Marietta an ihren Salzburger Erfolg mit der Salome erinnert und dem verwirrten Witwer einen (seelischen) Entschleierungstanz bis zum Showdown liefert. So packend kann Oper sein – das Publikum reisst es am Ende zu Recht von den Sitzen.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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